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Meine
Heimat
Auf einem amerikanischen Satellitenphoto
ähnelt die Bergkette des Anti-Atlas in
Südwestmarokko, wo ich geboren wurde, der
Oberfläche des Mondes. Nichts als
ungastliche Wüste! Doch ändert sich
das Bild, wenn man die Wege entlang fährt,
welche sich durch tiefe Täler zwischen den
hohen Bergen emporwinden, deren Gipfel bis zu
3000 Meter Höhe erreichen. Wohl sind die
oberen Zonen der Berge und der hohen Hügel
karg und unfruchtbar; die Wucht der Winde und
Regengüsse hat ihre Spur bis weit in die
Täler hinab hinterlassen, doch an beiden
Seiten der Wege erkennt der Besucher, dass er
ein uraltes Landwirtschaftsgebiet durchquert.
Hier spriessen Haine von Mandel- und
lbäumen und kleine
Getreidefelder.
Sie legen Zeugnis davon ab, dass diese
Gefilde eine Geschichte haben, dass hier eine
alte Zivilisation vorhanden war und dass der
Mensch dieses Land noch nicht ganz geräumt
hat. Im Januar, wenn die weisse Pracht der
Mandelblüten sich grell von der
ockerfarbenen Erde abhebt und wenn nach der
Schneeschmelze Sturzbäche die Wände
der Schluchten niederzischen und über
grüne Grasoasen strömen, sind die
tiefen Täler des Anti-Atlas von
betörender Schönheit. Ein Besucher,
den es hierher verschlagen hat, mag dann
annehmen, die Gegend sei fruchtbar. Doch leider
trügt die Satellitenaufnahme nicht. Die
ganze Region leidet schwer unter Wassermangel.
und es fehlen jegliche Voraussetzungen für
eine wirklich erfolgreiche Landwirtschaft.
Zudem hat sich im Lauf der letzten 30 Jahre
das Klima ständig verschlechtert; die
Abstände zwischen den Regenfällen sind
immer länger geworden, und es kommt zu
immer ausgedehnteren Dürreperioden. Armut
und Elend sind die Folgen. Die Ergebnisse dieses
Klimawandels sind in grossen Teilen von
Nordafrika zu spüren, die langsam aber
sicher zu Wüste werden. Im Südwesten
Marokkos bildet der Anti-Atlas die Grenze zur
Sahara, und wie überall in Grenzregionen
sind es die dort lebenden Menschen, die
zuallererst leiden müssen, wenn unheilvolle
Zeiten nahen.
Das Wachsen der Wüste beruht allerdings
nicht ausschliesslich auf unerbittlichen
klimatologischen Faktoren. Im Verlauf der
Jahrhunderte, während denen die Täler
des Anti-Atlas bewohnt waren, hat der Mensch
selbst tatkräftig zur Verringerung seiner
Überlebensmöglich- keiten beigetragen.
Weidende Herden haben den Boden seines
natürlichen Schutzes entkleidet, und die
Abhänge der Täler wurden ihres
lebensspendenden Humus beraubt.
Von dem, was die Erde ihnen zu bieten hatte,
konnten die Menschen in diesen kargen Zonen nie
leben. Soweit die Erinnerung zurückreicht,
haben sie versucht, ausserhalb ihrer
angestammten Lebensbereiche auf Mittel zum
Überleben zu sinnen. Während langer
Dürreperdioden und in Katastrophenjahren
musste der grössere Teil der
Bevölkerung nach Norden fliehen, in die
Ebenen längs der Atlantikküste, wo die
Überlebenschancen besser waren.
Doch selbst zur Zeit
verhältnismässig guter Ernten suchten
viele Menschen - ausschliesslich Männer -
ihr Glück im Norden, wobei sie ihre
Familien zurückliessen. Jene, die das
Arabische ausreichend beherrschten, versuchten
sich oft als "Tulba", Religionslehrer, durch-
zuschlagen, indem sie den Kindern im Norden
beibrachten, arabisch zu lesen und zu schreiben
und den Koran zu verstehen. Andere zogen zu den
Bergwerken in Westalgerien, nachdem die
Franzosen begonnen hatten, in ihrer Kolonie
Mineralvorkommen auszubeuten. Doch die meisten
von jenen, die gegen Norden wanderten, liessen
sich in den Städten Nordmarokkos nieder und
schufen sich dort eine Existenz als
Kleinhändler.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die
Auswanderung der Männer aus den
Gebirgsregionen des Südens solche Ausmasse
angenommen, dass sie geradezu zur Regel geworden
war. Jene, die in ihren Dörfern ausharrten,
bildeten die Ausnahme. Den Auswanderern eilte
bald der Ruf voraus, streng moralisch, arbeitsam
und wirtschaftlich tüchtig zu sein.
In der Zeit vor dem 2. Weltkrieg konnte man
in den Städten des Nordens ungefähr
gleich gut leben wie als Bauer und
Viehzüchter im Süden, doch zehn Jahre
später hatte der Handel in Norden die
Landwirtschaft im Süden klar auf den
zweiten Rang verwiesen. Der relative Wohlstand,
den man heute in den Dörfern antrifft, ist
so gut wie ausschliesslich importiert.
Man nennt die Menschen aus den von mir
geschilderten Regionen "Soussi" (Plural
"Souassa"). Der Name kommt vom Fluss Souss, der
zwischen den Gebirgsketten des Hohen Atlas und
des Anti-Atlas hindurchfliesst und gerade
südlich von Agadir ins Meer mündet.
Doch wenn die Marokkaner allgemein von "Souassa"
reden, meinen sie damit nicht die Bewohner der
fruchtbaren Ebene um den Fluss, sondern die
Volksgruppe, die oben in den Bergen des
Anti-Atlas beheimatet ist.
Die Tausenden von Souassa, welche in den
grossen Städten zu so erfolgreichen
Kaufleuten geworden sind, kommen aus dem Gebiet
um Tafraoute und entspringen Stämmen, deren
Dörfer an den Abhängen des
grossartigen, urwüchsigen Berges Jebel
Lkist liegen. Dieser ragt 2800 Meter in die
Höhe und beherrscht diesen Teil des
Anti-Atlas.
Unterhalb dieses Berges erstreckt sich ein
Tal von Norden nach Süden. Es ist nur
einige Kilometer breit und ein paar Meilen lang,
doch hier herrschen natürliche
Voraussetzungen für Ackerbau und
Besiedlung, wenn auch nur in begrenztem Umfang.
Die Dörfer sind in der Nähe von
Wasserläufen emporgeschossen, welche die
Berghänge nieder- brausen, und um das
Wasser herum haben die Bewohner terrassen-
förmige Anbauflächen für
Getreide, Mandelbäume und Olivenhaine
angelegt. Doch heutzutage, wo der Ackerbau
bereits grossenteils aufgegeben worden ist, sind
die Dörfer verfallen, und einzelne
Häuser stehen einsam und verlassen auf
Feldern, die der Mensch wieder der Natur
überlassen hat.
Die sieben Stämme jener Gegend
zählen insgesamt vielleicht 80'000 Seelen.
Zwei Nachbarstämme haben durch ihre
Geschicktheit und ihren Erfolg nicht zuletzt auf
dem Gebiet des Handels besonderen Ruhm erworben.
Einer davon ist der Tahala-Stamm, dem ich
angehöre.
Jeder dieser sieben Stämme gründet
sich auf Verwandtschaftsbande. Ihr sozialer und
kultureller Hintergrund ist sehr ähnlich.
Sie bilden zusammen eine begrenzte geographische
Einheit und besitzen gegenüber Fremden eine
eigene Identität. Der Sammelbegriff
für diese Stämme lautet "Ammeln".
Auf einer unteren Stufe finden wir dann
Einheiten, die auf nahe Verwandtschaft und
Blutsbande zurückgehen. Eine solche
Einheit, die man Stamm nennt, aber vielleicht
mit einem treffenderen Ausdruck als Klan
bezeichnen könnte, heisst in der
Berbersprache "afus", was öHand"
bedeutet.
Ein solcher "afus" ist der Tahala-Stamm.
Heutzutage ist er südwestlich des Berges
Jebel Lkist beheimatet. Sein Verwaltungszentrum
ist die kleine Stadt Tafraoute. Als mein
Urgrossvater Rami den Tahala-Stamm
anführte, hiess dieser Ait Rami. Rami
bedeutet auf arabisch "Schütze", doch in
der Berbersprache "Mann". Das Wort "ait" leitet
sich vom arabischen "ila", "Familie", ab.
Als mein Grossvater Moussa Ouhmou
Stammeshäuptling wurde, nahm der Stamm den
Namen Ait Moussa an.
Mein Grossvater wurde zum Häuptling
gewählt, weil er mutig und ein guter
Schütze war. Er wurde von einem schwarzen
Berufsmörder umgebracht. Der Mord geschah
auf dem Marktplatz Tahala, fünf Kilometer
von unserem Dorf entfernt. Dies war ein
unerhörter Frevel, denn der Tradition
zufolge war es verboten, auf dem Markt einen
Menschen zu töten.
Hinter dem Verbrechen stand ein feindlicher
Stamm, der keinen anderen Weg sah, ihn aus dem
Weg zu räumen, als einen Berufsmörder
zu dingen, der ihn feige von hinten erschoss.
Mein Grossvater war gewarnt worden, doch er
wollte nicht als Angsthase dastehen und ging
deshalb zum "Souk" (Markt). Am darauffolgenden
Mittwoch erkannten einige Menschen auf dem
grossen Markt in Tafraoute (Souk Larba, 10
Kilometer von meinem Heimatdorf) den
Mordgesellen wieder und erschossen ihn. So wurde
mein Grossvater gerächt.
Unter den Souassa war Blutrache im 19. und zu
Beginn des 20. Jahrhunderts gang und gäbe.
Ein Grund für die häufigen
Rachefeldzüge lag in den inneren
Spannungen, die unter einer
Bevölkerungsgruppe entstanden, wo immer
mehr Menschen von den immer kargeren
Erträgen des Bodens leben mussten. Die
Blutrache war aber auch ein Ergebnis der
primitiven, aber wirksamen Rechtsordnung, die in
isolierten Gemeinschaften existiert. Wer dort
einen Menschen tötet, muss mit seinem
eigenen Leben dafür büssen. Da es
keine ordnende Macht gab, rächten sich die
verschiedenen Familien und Klans auf eigene
Faust für erlittenes Unrecht. Sie
stützten sich dabei auf Bräuche und
Regeln, die von Generation zu Generation
übernommen wurden.
Geschah ein Mord, und war der Mörder
bekannt, so musste er das Land verlassen. Danach
konnte sich die Familie des Opfers nicht an der
des Täters rächen. Doch konnten
fünf Angehörige des Ermordeten
schriftlich zu Rächern bestimmt werden; sie
hatten dann das Recht, den Übeltäter
aufzuspüren und umzubringen. Gelang ihnen
dies, drohte ihnen keine Landesverweisung. War
ein Mord ohne Vorbedacht begangen worden, konnte
der Täter der Familie seines Opfers ein
Blutgeld bezahlen. Bisweilen begnadigte der
Stamm einen Mörder sogar dann, wenn die Tat
vorsätzlich geplant war.
Natürlich gab es auch Morde, bei denen
der Täter unbekannt blieb. Wurde dann
jemand des Verbrechens verdächtigt, so
konnten seine Blutsverwandten seine Unschuld
beschwören. Dasselbe galt für andere
Vergehen, die ungeklärt blieben. In manchen
Fällen beschworen fünf Mitglieder
eines Afus die Unschuld des Beschuldigten, in
anderen 12 oder gar 25. Bei einem Mordfall
brauchte der Verdächtige nicht weniger als
50 Bürgen. Als solche kamen lediglich
Angehörige seines eigenen Afus in Frage.
Üblicherweise wurde der Eid am Grabe eines
Heiligen geleistet und von einem religiösen
Führer mit dem Koran in der Hand
überwacht.
Die soziale Gruppierung, die am besten dazu
geeignet war, innere Streitigkeiten beizulegen,
war der Afus. Ein solcher umfasste bis zu 50
Familien. In einem Dorf konnten viele Afus
gemeinsam leben. Jeder Afus, und
darüberhinaus jedes Dorf, wählte einen
Führer, in der Regel einen älteren
Mann, und zwar meist auf Lebenszeit.
Bei Streitfällen waltete dieser als
Vermittler. Liess etwa jemand seine Ziegen auf
den Feldern seines Nachbarn weiden, oder geschah
ein Diebstahl, oder kam es zu einem Streit um
Wasserrechte, so bemühte sich der
"Anfgour", den Zwist zu schlichten. Als Anfgour
bezeichnet man den gewählten Vertreter des
Afus in der "Djama" (Ratsversammlung) des
Dorfes.
Der Stamm in seiner Gesamtheit wählte
seinerseits einen Führer ("Anflous"). Seine
Aufgaben waren dieselben, nur eben auf
höherer Stufe. Jeder Stamm besass seine
Regeln ("Luh", was eigentlich
öHolzstück" bedeutet). Diese sahen
genaue Sanktionen für alle Delikte vor und
legten sogar die Art und Weise fest, wie
Märkte abzuhalten waren. Dem Anflous oblag
die Aufgabe, über die Einhaltung der Luh zu
wachen. Alles hatte seinen Preis, sogar
Beleidigungen. Wurde jemand verletzt, so mass
man seine Wunde mit den Fingern eines
mittelgrossen Mannes, und die Luh sahen für
jede Fingergrösse der Wunde eine
Bussezahlung im Verhältnis zum Ausmass des
Schadens vor.
Regeln und Gebräuche dieser Art
prägten das Dasein in den
Souassadörfern. Sie waren im Lauf einer
generationenlangen isolierten Existenz in den
Bergen entstanden. Niemand weiss, wann die
ersten Berber die Regionen des Anti-Atlas
erreicht haben. Man weiss noch nicht einmal,
wann dieses Volk Nordafrika zu besiedeln begann.
Seine Geschichte ist in Mythen und Sagen
gehüllt, und man kann nicht mit Sicherheit
feststellen, woher es gekommen ist.
Die Griechen und später die Römer
gaben diesem Volke den Spitznamen "Berber". Als
solche galten den Griechen all jene Menschen,
die nicht griechisch sprachen und somit
ausserhalb der damals herrschenden, griechisch
geprägten Zivilisation standen. Die Berber
nennen sich selbst "Chleuch" und "Amazigh"
(Plural "Imazighn"), was soviel wie "freie
Menschen" bedeutet. Als die Araber gegen Ende
des 7. Jahrhunderts nach Marokko kamen, bildeten
die Berber dessen Bevölkerung.
Auf den Ebenen und in den teilweise
städtisch geprägten Gebieten Marokkos
errichteten die Araber ihre ersten festen
islamischen Basen. In diesen Zonen wurde das
Arabische übernommen, zunächst als
Sprache der Religion, doch später auch als
Alltagssprache.
In den Bergen wurde dem entstehenden Staat am
heftigsten Widerstand geleistet. Dort sowie in
der Wüste fiel die Bekehrung zum Islam
leichter als die Übernahme der arabischen
Sprache und des Stadtlebens. Erstaunlicherweise
entsprangen einige der wichtigsten islamischen
Kämpfer, die sich gegen die Korruption in
den Städten und für einen erneuerten,
revolutionären Islam einsetzten, den
eigentlichen Nomaden der Sahara sowie den
halbnomadischen Stämmen in den Bergen.
Hamitischsprechende Berber und
semitischsprechende Araber; eine arabisierte
Stadtbevölkerung und nichtsesshafte Berber
der Gebirge, die während der verschiedenen
Jahreszeiten von ihren Feldern zu den Weiden und
dann zurück zu den Feldern wandern: das ist
die Bevölkerung Marokkos. Dieses lässt
sich einer Halbinsel vergleichen. Auf zwei
Seiten wird es von Meeren umsäumt, dem
Atlantik und dem Mittelmeer, auf der dritten von
Wüsten und Gebirge.
Einst brach dieses Land aus seiner Isolierung
aus und verpflanzte seine maurische Zivilisation
nordwärts nach Spanien, doch musste es
dieses einige Jahrhunderte später wieder
verlassen und sich abermals in die Isolation
zurückziehen. Marokko bildet den westlichen
Aussenposten der islamischen Welt. Es wird
überall von Stämmen aus den Oasen der
Sahara durchstreift, von fanatisch
gläubigen Nomaden, die eine Dynastie nach
der anderen begründet haben. Länger
als jedes andere Land in Nordafrika konnte sich
Marokko der europäischen Zivilisation
entziehen.
Doch eines Tages im Jahre 1907 stiegen
französische Marineeinheiten bei einem
ärmlichen Fischerdorf namens Anfa an Land.
Der Ort heisst heute Casablanca und zählt
vier Millionen Einwohner. Marokko ist ein Land,
das grösstenteils aus Bergen und
Wüsten besteht. Hier scheint die Zeit
langsamer vorangeschritten zu sein als
anderswo.
Will man festsetzen, von wann an sich das Rad
der Geschichte rascher zu drehen begann, so
fällt die Wahl zwangsläufig auf das
Jahr 1912. Damals eröffneten Franzosen und
Spanier ihren Eroberungsfeldzug in Marokko.
Dieses wurde zum "Protektorat" ernannt, was
bedeutete, dass die europäischen
Mächte das Recht für sich in Anspruch
nahmen, es nach Herzenslust
auszuplündern.
Es war den französischen
Streitkräften ein leichtes, die
korrumpierten Städte und die Ebenen in
Besitz zu nehmen, doch es dauerte 20 Jahre, bis
sie die Bergvölker des Anti-Atlas
"befriedet" und unterworfen hatten. Der Grund
dafür lag einerseits in dem unwegsamen
Gelände, andererseits im unerschrockenen
Widerstand der Bergbevölkerung. Der Islam
kam aus dem Osten, um die Menschen zu befreien;
der Kolonialismus kam aus Europa, um sie
wirtschaftlich, kulturell und politisch zu
unterdrücken und auszubeuten.
In der Mitte der vierziger Jahre baute die
französische Armee die erste Strasse
zwischen Tafraoute und Tiznit. Darauf begannen
die Männer aus Souss, in grosser Zahl nach
Casablanca abzuwandern, das in der Folge
unmässig wuchs.
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