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Ein junger
Freiheitskämpfer
Als ich das erste Mal nach Casablanca kam,
musste ich wie ein Sklave schuften: ohne Lohn,
ohne anständigen Ort zum Schlafen, ohne
Freunde, ohne irgendwelche Menschenrechte. So
wie mir erging es Millionen von Kindern im
ganzen Land. Nun sah ich die Stadt wieder, aber
diesmal wollte ich zur Schule gehen. Ich traf
nachts ein, und es gab keinen Ort, wo ich wohnen
konnte. So schlief ich auf der Strasse, indem
ich meine Tasche als Kissen benutzte. Ich muss
damals 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein.
Am folgenden Morgen begab ich mich zu einem
bekannten, wohlhabenden Mann, der sich
während des Zweiten Weltkriegs auf dem
schwarzen Markt eine goldene Nase verdient
hatte. Er stammte aus Souss und konnte weder
lesen noch schreiben. Ich hatte vernommen, es
gebe in Casablanca ein Internat für
heimatlose Kinder, und der betreffende Geldsack
sitze im Vorstand des Vereins, dem das Internat
gehörte. Er hiess Hadj Abd und war ein
typischer Vertreter der parasitären Schicht
von Neureichen.
In Souss wussten alle, wo sein Haus in
Casablanca lag. Dorthin ging ich also und
klopfte an die Tür. Ich sagte, ich sei ein
heimatloses Kind und wolle gerne weiter zur
Schule gehen, besitze aber keinen roten Heller.
Hadj Abd wunderte sich nicht schlecht. Wir
sprachen zunächst zusammen ein Gebet;
anschliessend eröffnete er mir, es gebe
seines Wissens im Internat keinen freien Platz
mehr, doch gab er mit einen Wisch mit und
schickte mich mit diesem zum
Internatsleiter.
Ich wurde wider Erwarten aufgenommen, musste
aber auf dem Boden schlafen. Trotzdem war ich
überglücklich. Das Essen war miserabel
und die hygienischen Zustände
kläglich. Ich kam zu zwei anderen
Schülern ins Zimmer. Der eine hiess Adel.
Sie gaben mir eine Decke, in die ich mich beim
Schlafen auf dem Fussboden wickelte. Eine Woche
später wurde mir ein Bett zugewiesen. Nun
gab es also einen Ort, wo ich schlafen und essen
konnte. Als nächstes machte ich mich auf
die Suche nach einem Gymnasium, das bereit war,
mich aufzunehmen.
Ich suchte ein grosses Gymnasium auf, das
nach dem damaligen Kronprinzen "Lyce
Moulay Hassan" benannt war. Da ich die
nötigen Unterlagen vorweisen konnte, liess
man mich zum zweiten Jahreskurs zu. Die Lehrer
waren unter aller Kritik, und ich merkte bald,
dass der Unterricht für mich nur
Zeitverschwendung war. Deshalb studierte ich Tag
und Nacht auf eigene Faust. Die anderen Kinder
waren acht Jahre lang auf die gewöhnliche
Schule gegangen und hatten es deswegen nicht so
eilig wie ich. Im Gegensatz zu den Kindern aus
reichen Familien ging ich nun nicht zur Schule,
weil ich musste, sondern weil ich wollte. Ohne
Abitur (Baccalaurat) sah ich für mich
keine Sicherheit und Zukunft. Es war geradezu
eine Existenzfrage für mich, dass ich das
Abitur schaffte.
Dies war im Schuljahr 1960/61. Ich wollte das
Abitur so rasch wie möglich bestehen.
Deswegen bereitete ich mich privat auf die
Prüfung vor. Eigentlich hätte ich noch
volle fünf Jahre lang zur Schule gehen
müssen, doch schon nach einem Schuljahr
fühlte ich mich reif für die
Abschlussprüfung. Deshalb reichte ich beim
Erziehungsministerium einen Antrag auf Zulassung
zur Abiturprüfung als Privatstudent ein.
Dem Ersuchen wurde stattgegeben. Sobald das
Schuljahr zu Ende war, durfte ich an der
Prüfung teilnehmen, und zu meiner grossen
Überraschung schaffte ich sie auf
Anhieb.
Meine Klassenkameraden hatten nun noch vier
Schuljahre vor sich. Nach zwei Jahren
Lehrerseminar wurde ich anno 1963 Gymnasial-
lehrer. Über eine allzu lange Schulzeit
konnte ich mich wahrlich nicht beschweren, denn
ich hatte insgesamt ganze drei Jahre lang die
Schulbank gedrückt und dabei die
Anfänger-, Mittel- und Gymnasialstufe
absolviert. Nach weiteren zwei Jahren hatte ich
auch eine akademische Ausbildung, das
Lehrerseminar, hinter mir.
Wohl nahmen mich meine Studien auf dem
Gymnasium und am Lehrerseminar sehr in Anspruch,
doch las ich gleichzeitig viel über
Politik. Manche der damals verschlungenen
Bücher prägten mich stark und
vertieften mein Bewusstsein. Ich las den Koran
und einige Bücher von Nasser
(Revolutionsphilosophie), Chakib Arsalan
(öWeshalb sind die Muslime heute
unterentwickelt?ö) sowie Khalid Mohamed
Khalid (öBürger, nicht
Sklavenö).
Zudem führte ich mir zahlreiche
Schriften über Nasser, Ben Bella, Abdelkrim
al-Khatabi, Abdelkader al-Jazairi etc. zu
Gemüt. Ich sass auch oft vor dem Radio und
hörte die "Stimme der Araber" aus Kairo;
der marokkanische Rundfunk war in meinen Augen
bloss ein Instrument zur Verbreitung
heuchlerischer Lügenpropaganda.
Einen nachhaltigen Eindruck hinterliess auf
mich auch Victor Hugos grosser Roman "Les
Misrables", weil ich mich selbst als eine
Art Stiefkind des Schicksals betrachtete. Doch
rührt Hugos Buch lediglich zu Tränen,
ohne eine Lösung anzubieten oder Hinweise
darauf zu vermitteln, wie man die sozialen
Ungerechtigkeiten beseitigt, welche Stiefkinder
des Schicksals wie mich erzeugen. Die
grösste Inspiration bedeuteten für
mich der Koran , das kleine, mir seinerzeit vom
Caiden zum Geschenk überreichte
"Hadithö-Buch sowie Nassers Revolution
gegen Tyrannei, Kapitalismus und
Kommunismus.
Doch nun war die ganze politische Elite, die
der Kolonialismus in Marokko herangezüchtet
und ausgebildet hatte, in ideologischer und
politischer Richtung westlich geprägt.
Deshalb waren alle von dieser Elite nach der
Unabhängigkeit gegründeten Parteien
westlich: liberal, kapitalistisch oder
marxistisch. Als Folge dieser Entwicklung gab es
keine selbständige islamische Bewegung und
auch keine islamistische Partei. Wir sahen uns
der Tatsache gegenüber, dass es dem
französischen Kolonialismus zumindest
vorläufig gelungen war, uns seine
kulturelle, sprachliche und ideologische
Vormundschaft aufzu- zwingen.
Alle zugelassenen, "gemässigten"
marokkanischen Parteien sind eine Art Importware
aus Frankreich. 45 Jahre französischer
Herrschaft liessen mehrere frankophone
Generationen entstehen, welche das Gedankengut
des Kolonialismus weiterführten. Nach der
Erlangung seiner Selbständigkeit
benötigt Marokko deshalb weitere 45 Jahre,
um das geistige Joch des Neokolonialismus
abzuschütteln und eine befreite, wahrhaftig
unabhängige islamische Gesellschaft zu
schaffen, die in kultureller, ideologischer und
politischer Hinsicht unsere eigenen Werte und
Traditionen verkörpert.
Dies alles empfand ich, als ich begann, auf
islamischer Grundlage für Freiheit,
Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu
kämpfen. Alle legalen Parteien und
Organisationen wurden von wohlhabenden,
privilegierten Leuten mit neokolonialistischer
Mentalität sowie von deren Kindern
geführt, die sich zum Marxismus oder
Liberalismus bekannten!
1960 trat ich der politischen
Studentenorganisation UNEM (Union Nationale des
tudiants du Maroc) bei. 1961 wurde ich Mitglied
der UNFP, obschon mir klar war, dass die
Parteiführung aus Opportunisten bestand. Es
gab einfach keine Alternative. Im
darauffolgenden Jahr, also 1962, hielt ich meine
erste politische Rede, und zwar bei einer
grossen Versammlung an der Messe von Casablanca.
Wie bereits früher erwähnt, hatte der
König dem Volk eine neue Verfassung
vorgelegt, und das Volk sollte diese nun
gutheissen oder verwerfen. Das Ganze war eine
reine Farce, und ich sprach mich für einen
Boykott aus. Wir wollten eine vom Volk und nicht
vom Monarchen gewählte Versammlung.
Garantien gegen Wahlbetrug gab es keine.
Zum ersten Mal wurde ich als militantes
Basismitglied der UNFP verhaftet, während
einige Männer aus der Führungsspitze
der Partei gleichzeitig im Palast sassen und im
wahrsten Sinne des Wortes mit dem König
Poker spielten. Am Tag nach meiner Rede sass ich
als Parteivertreter in Marif, einem
Stadtteil von Casablanca, um die Wahl zu
überwachen. Ich hatte recht viel über
wahltechnische Fragen gelernt und kannte die
Regeln.
Am Abstimmungstag selbst durfte keine
Propaganda gemacht werden, doch in der Schule,
wo das Wahllokal für unseren Bezirk
eingerichtet war, galt diese Regel nicht - wie
auch in den anderen Abstimmungslokalen des
Landes. Auf dem Schulhof stand eine lange Reihe
von Menschen, die abstimmen wollten, aus lauter
Furcht vor einer Bestrafung, wenn sie dem
König ihre Stimme verweigerten. Die meisten
waren Analphabeten. Ca. 70% der marokkanischen
Bevölkerung können weder lesen noch
schreiben. Deshalb war das Ja und das Nein
jeweils durch eine Farbe gekennzeichnet.
Die weisse Farbe stand für das Ja. Auf
Arabisch heisst verwenden wir für "weiss"
dasselbe Wort wie für "Ei", nämlich
"beda". Ich sah einen Polizisten in Zivil, der
auf dem Schulhof umherging, während die
Leute Schlange standen, und dabei Eier
verteilte. Dabei ermunterte er sie, öweiss"
zu stimmen. Ich machte ihn darauf aufmerksam,
dass eine solche Wählerbeeinflussung am
Abstimmungstag nicht gestattet war. öWenn
du so weitermachst", rief ich, "dann hole ich
Brot und schneide es für das Volk" (das
Verb für "schneiden" wird im Arabischen
auch für "boykottieren" benutzt).
Nach einer Weile tauchten zwei weitere,
ebenfalls in Zivil gekleidete Polizisten auf und
nahmen mich fest. Auf dem Polizeiposten machten
sich die Bullen über mich lustig, weil ich
die Wahlen ernst nahm. Drei Tage lang blieb ich
in Polizeigewahrsam. Man misshandelte mich,
unter anderem, indem man elektrische Kabel um
meine Finger wickelte und Stromstösse
hindurchjagte. Die Misshandlung von Verhafteten
ist bei der marokkanischen Polizei gang und
gäbe.
Die UNFP-Sektion, der ich angehörte, war
im Stadtteil Derb Ghalef in Casablanca
beheimatet. Allerdings lag ich ideologisch nicht
auf der Parteilinie. Ich war in allererster
Linie Islamist, d.h. ich wollte mich für
einen Staat einsetzen, der für
Panislamismus und Panarabismus, für
islamische Werte und für politische wie
wirtschaftliche Demokratie stand. Für
letztere verwenden wir den Begriff "shoran".
Diese Punkte standen nicht im UNFP-Programm.
Die Partei war nicht eindeutig sozialistisch,
nicht eindeutig panarabisch und nicht eindeutig
islamisch. An ihrer Spitze stand eine getarnte
marxistische Elite. Die Partei war als
Kompromiss zwischen verschiedenen Personen aus
verschiedenen Interessengruppen entstanden. Ihr
gebrach es an einer klaren ideologischen Linie,
und doch genoss sie eine gewisse
Unterstützung durch das Volk, weil es
einfach nichts Besseres gab.
Andererseits war diese vage ideologische
Ausrichtung auch eine Stärke. Im Grunde
genommen war die UNFP eher eine Front als eine
Partei. Die Ideologie der marokkanischen Eliten
ist von Heuchelei und Opportunismus
geprägt.
1963 wanderte der gesamte nichtmarxistische
Teil der Parteiführung auf Geheiss des
Königs hinter Gitter, worauf die
Kommunisten das Szepter übernahmen und die
UNFP zu einer reinen Kommunistenpartei wurden,
genau wie es der König bezweckt hatte. Ich
war gegen den Kommunismus und die Kommunisten,
die bloss das sowjetische System kopieren
wollten, folglich antiislamisch waren, unsere
eigene Kultur zerstören und die bestehende
Diktatur durch eine noch schlimmere ersetzen
wollten. Die Tragödie, die sich später
in Afghanistan ereignet hat, illustriert die
Ziele und Methoden der Kommunisten sehr
anschaulich.
Schon als Kind geriet ich durch die Sendungen
von Radio Kairo (öStimme der Araberö)
in Berührung mit den Gedanken Nassers. Ich
hörte von jenem ägyptischen Offizier,
der mit Unterstützung des Volkes König
Faruk gestürzt, die Monarchie abgeschafft
und den Engländern die Stirn geboten hatte.
Vor Nasser war die arabische Welt unter
Engländern und Franzosen aufgeteilt, aber
nun hörten wir zum ersten Male eine
arabische Stimme, die Stimme eines Mannes, der
weder für den Osten noch für den
Westen war, sondern für wahhaftige
Unabhängigkeit stand. "Die Hauptstadt
gyptens ist weder London noch Paris noch
Washington, sondern Kairo", sagte Nasser.
Die ägyptische Revolution hatte im Juli
1952 stattgefunden, in jenem Jahr, als ich das
erste Mal nach Casablanca kam. Im gleichen Jahr
brach auch ein Streik in Tunesien aus, in dessen
Folge die Franzosen den tunesischen Führer
Farhat Hachad umbrachten. Diese Ereignisse
erregten in Marokko beträchtliches
Aufsehen, weil sie bewiesen, dass es doch noch
Leute gab, die es wagten, sich den
Kolonialherren entgegenzustellen. Die
ägyptische Revolution war dabei der
zündende Funke!
Ich bewunderte Nasser vor allem deshalb, weil
er 1956 den Suezkanal nationalisiert und dann
Widerstand gegen die englisch-französisch-
israelische Aggression geleistet hatte. Doch
ging meine Bewunderung auch darauf zurück,
dass er mit der verrotteten Monarchie in seinem
Land Schluss gemacht hatte. Mir schien es
durchaus möglich, diesem Beispiel in
Marokko zu folgen.
Wir Jugendlichen stützten uns zur
Gewinnung von Informationen über Nassers
Ideengut hauptsächlich auf die Sendungen
von "Stimme der Araber", die sich an die gesamte
arabische Welt wandten. In allen arabischen
Staaten lauschten die Menschen diesen Sendungen,
und Nassers Stimme schien auch mir zuzurufen,
ich solle mich gegen die Ungerechtigkeit zur
Wehr setzen. Die Revolutionen Nassers in gypten
und Ben Bellas in Algerien, der siegreiche
Widerstandskampf des afghanischen Volkes gegen
den Sowjetimperialismus, die islam-ische
Revolution im Iran sowie die
palästinensische Intifadda - dies sind die
grössten islamischen Revolutionen der
modernen Zeit, und für kommende islamische
Generationen werden sie immer Inspirations-
quellen bleiben.
Ungeachtet all der Fehler, die begangen
wurden, lag ihnen allen ehrliche
Überzeugung zugrunde, und sie haben
gezeigt, was die Moslems erreichen können,
wenn sie es nur schaffen, sich in einem
islamischen Jihad zur Schaffung von Freiheit,
Demokratie (Shora) und soziale Gerechtigkeit zu
vereinen. Nur wer nichts tut, begeht keine
Fehler. Kritisieren ist leicht. Die beste Kritik
liegt in der Tat, im Vorangehen mit gutem
Beispiel.
Als ich meinen politischen Kampf begann, gab
es keine islamische Partei in Marokko.
Eigentlich passte mir überhaupt keine der
bestehenden Parteien in den Kram. Trotz all
ihrer Mängel stand mir die UNFP noch am
nächsten. Die Istiqlal war seit der
Abspaltung der UNFP eine reaktionäre Partei
geworden und kämpfte hauptsächlich
noch für die Privilegien der Oberklasse.
Zudem wurde diese Partei von Leuten aus Fes
(öFassi" genannt) dominiert, denen es
geglückt war, viel zu viel Macht und
Vorrechte zu erringen und viel zu grossen
Einfluss in der Gesellschaft und im
Staatsapparat zu erlangen. - Es versteht sich
von selbst, dass ich mit diesen "Fassi" eine
politisch und wirtschaftliche privilegierte und
nicht eine ethnische Gruppe meine.
Zwei Jahre lang wohnte ich also im Internat.
Das Leben war für mich kein Honiglecken;
ich ging nie ins Kino, sondern widmete mich voll
und ganz meiner Ausbildung. Schliesslich galt es
die Zeit wettzu- machen, die ich als Kind
verloren hatte, weil ich arbeiten musste.
Ich habe niemals geraucht, niemals Wein oder
Schnaps getrunken oder Haschisch genommen. Ich
ass sehr einfach und nahm alles zu mir, was man
mir auftischte, gleichgültig wie es
schmeckte - um zu überleben. So führte
ich ein durch und durch einfaches und
unkompliziertes Leben, obgleich Casablanca, wie
jede grosse Stadt, ein Hort der Korruption
ist.
Während meines letzten Studienjahrs am
Lehrerseminar wohne ich bei einem Vetter in Derb
Galef, einem ärmlichen Stadtteil in
Casablanca, der man fast schon als Elendsviertel
bezeichnen kann. Mein Veter, Moh-Olhes, besass
ein kleines Geschäft und ich teilte mein
winziges Zimmer, das einem Grab ähnelte,
mit einem seiner Söhne. Zu meinem Besitz
zählte ich ein Fahrrad. Ich war sehr
einsam, hatte kaum Freunde und unterhielt wenig
Kontakt zu anderen Menschen. Ein allzu
geselliger Mensch war ich nie gewesen.
Als ich im Oktober 1963 Lehrer wurde, am
gleichen Gymnasium, wo ich zuvor studiert hatte,
begann ich meine alten Klassenkameraden zu
unterrichten, die nun in der letzten
Gymnasialklasse waren. Ich arbeitete drei Jahre
lang, nämlich von Oktober 1963 bis Oktober
1966, als Lehrer, und zwar an insgesamt vier
verschiedenen Schulen: Lyce Mohamed V,
Lyce Fatima Zahra, CollÜge Chaouki
und die Lehrerhochschule von Casablanca.
Gleichzeitig gab ich mich politischen
Aktivitäten hin und bemühte mich,
unter den Gymnasiasten von Casablanca eine
islamistisch-nasseristische
Untergrundorganisation auf die Beine zu stellen.
Im Lyce Mohamed V (früher Lyce
Moulay Hasan), wo ich als Lehrer tätig war,
nahmen die Studentenunruhen von 1964 und 1965
ihren Anfang. Ich zog dabei die Fäden. Die
Unruhen begannen 1964 und erreichten im
März 1965 ihren Höhepunkt. Ich wurde
am 23. März 1964 und genau ein Jahr darauf
nochmals verhaftet.
Wir reagierten gegen die sozialen
Ungerechtigkeiten, die Diktatur, das
Tyrannenregiment - d.h. Erscheinungen, wie sie
für die sogenannte Dritte Welt
charakteristisch sind. In Marokko gelang es uns
niemals, die Durchschnittsmenschen zur Revolte
anzustacheln, auf die es doch in erster Linie
ankommt.
Die Parallele zu den Oststaaten war ganz
auffallend. Die Diktaturen in Ost und West
ähneln sich. Dem Durchschnittsbürger
wird dort eingetrichtert, dass er keine Rechte
besitzt und dass Arbeitslosigkeit, Unrecht,
Korruption und eine privilegierte Oberschicht
ein naturgegebenes, unveränderliches
Schicksal sind. In Tat und Wahrheit galt in
Marokko kein Gesetz. Die Korruption war zum
System geworden. Unbestechliche Beamte bildeten
die Ausnahme.
Die politische Atmosphäre war sehr
gespannt geworden, und was die Revolte
auslöste, war eine neue Verordnung, der
zufolge die Möglich- keiten gewisser
Schüler, ihre Studien fortzuführen,
eingeschränkt wurden. Der Staat konnte
nicht jedermann die Möglichkeit zum Studium
bieten, der sie verlangte. Es war ein Leichtes,
die Schüler gegen diese neue Verordnung zu
mobilisieren, und so kam es zu heftigen
Unruhen.
Der Demonstrationszug ging von unserer Schule
aus. Schon nach einigen hundert Metern begannen
wir gegen den staatlichen
öFünfjahresplan" für den
Unterricht zu protestieren. Wir marschierten zur
regionalen Sektion des Erziehungsdepartements.
Da ich Lehrer war und die Schüler mich
kannten, konnte ich die Kundgebung organisieren.
Viele wünschten, ich solle eine Rede halten
und darlegen, worum es ging. Man trug mich auf
den Schultern. Ich hielt die verlangte Rede,
wobei ich wortstark gegen die Diktatur, den
Polizei- staat, die Regierung, die Korruption
und den König zu Felde zog.
Während ich sprach, teilte man mir mit,
die Polizei sei unterwegs. Ich sagte, wir
sollten keine Furcht vor der Polizei haben und
nicht wie Feiglinge davonlaufen, sondern uns auf
einen Zusammenstoss mit der Polizei vorbereiten.
Sobald die Polizisten eingetroffen waren,
begannen sie auf die Studenten loszudreschen.
Wir wichen nun in Richtung auf die Armenviertel
aus. Viele Arbeitslose schlossen sich uns an,
und die Demonstration nahm einen
ausgeprägteren politischen Charakter an.
Dies erfolgte sehr rasch. Man begann das
Zentralgefängnis und zahlreiche andere
"ffentliche Gebäude zu stürmen. Schon
nach ein paar Stunden war Casablanca nicht mehr
unter der Kontrolle des Staates.
So fing es an. Meine Rolle bei der Revolte
bestand darin, die Verbreitung von
Flugblättern durch meine Schüler zu
organisieren, durch welche andere mobilisiert
werden sollten. Wir hatten eine Gruppe gebildet,
die die verschiedenen Demonstrationszüge zu
ver-schiedenen Zielorten führen sollte.
Später wurden allerlei
Märchen-geschichten erzählt, und meine
Rolle bei der Revolte wurde stark
übertrieben; über mich kursierten die
wildesten Gerüchte.
Ein Schüler berichtete, er habe
gehört, dass ich einen Bus besetzt habe,
damit auf das Tor des Zentralgefängnisses
losgefahren sei und dieses gesprengt hatte.
Nichts daran stimmte. Nach meiner Verhaftung
wurde ich allerdings zu diesen Gerüchten
befragt, welche für die Polizei Tatsachen
waren. Ich konnte beweisen, dass ich nicht in
der Nähe des Gefängnisses war, als
dies geschah. Mindestens 500 Menschen kamen uns
Leben; unzählige wurden verletzt. Die Zahl
der Festgenommenen ging in die Tausende.
Diese Geschehnisse bestärkten mich in
meiner Auffassung, dass man in einem
Diktaturstaat keinen unbewaffneten Widerstand
gegen Armee, Gendarmerie und Panzer leisten
kann. Schon Nasser hatte sich als Zivilist
bemüht, das System zu bekämpfen, doch
war er dabei gescheitert. Ich hatte dem Glauben
gehuldigt, man könne durch Mobili- sierung
der "ffentlichen Meinung sowie durch
Kundgebungen etwas erreichen, aber die
demokratischen Voraussetzungen dazu fehlten.
Als ich nach dem Examen meine Lehrerlaufbahn
begann, dauerte es sechs Monate, ehe meine
Kollegen und ich unseren Lohn erhielten.
Zusammen mit ein paar anderen Lehrern beschloss
ich, dagegen zu demonstrieren. Wir fuhren nach
Rabat und setzten uns vor dem
Erziehungsministerium auf den Boden. An diesem
Sitzstreik nahmen 30 Leute teil. Nach ein paar
Minuten rückte eine Polizeieinheit an und
umzingelte uns. Ein arroganter Kommissar kam auf
uns zu und begann über uns zu lachen:
"Meine Heren, glauben Sie denn eigentlich, Sie
seien hier in Schweden?"
Dies war das erste Mal, das ich auf den Namen
"SuÜde", Schweden, aufmerksam wurde. Mir
ging es bei dieser Gelegenheit auf, wie absurd
es doch eigentlich war, eine Diktatur mit
demokratischen Mitteln bekämpfen zu wollen.
53 Aber, so dachte ich mir, wenn wir die Tanks
nicht stoppen können, so müssen wir
sie eben fahren. Wir jungen Männer wurden
gebraucht, um uns ans Steuer der Tanks zu
setzen. Deshalb reifte in mir der Plan, mich um
eine Aufnahme an der Militärakademie zu
bewerben. Ich wollte Offizier werden.
Als Antwort auf den Sitzstreik wurde ich an
meinem Wohnsitz vorübergehend festgenommen.
Bei einem früheren Anlass, im März
1964, kam die Polizei in meine Schule und
verhaftete mich nach einer Demonstration. Damals
hatte ich Glück, denn meine Schüler
sahen, dass ich abgeführt wurde, und
begannen zu streiken, worauf ich nach der
unvermeidlichen routinemässigen
Misshandlung freigelassen wurde. Die Tochter des
Polizeikommissars hiess Husseini und war eine
meiner Schülerinnen.
Aber im März 1965 stattete die Polizei
mir an meinem Wohnsitz einen Besuch ab, und die
Schüler wussten nicht, was passiert war.
Dass ich Lehrer war, erwies sich als hilfreich,
denn man hätte es ja sofort gemerkt, wenn
ich längere Zeit abwesend gewesen
wäre. In Marokko sind Schüler und
Studenten allgemein weit stärker
politisiert als der Rest der Gesellschaft.
Wäre ich ein gewöhnlicher Arbeiter
gewesen, so wäre ich vielleicht für
immer verschwunden, wie es Hunderten von
Menschen in Marokko widerfahren ist. Das
schlimmste Vergehen, dessen man sich in jenem
Lande schuldig machen kann, besteht darin,
ösich in die Politik einzumischen".
Wird man aufgrund dieses Delikts
festgenommen, so werden beim Verhör die
üblichen Fragen gestellt. Dabei wird der
Befragte stets misshandelt, selbst wenn es nur
um ganz einfache Fragen geht, etwa um die,
welcher Organisation man angehört oder was
man getan hat. Mir wurde vorgeworfen, dass ich
die Schüler zum Streik aufgewiegelt und
Demonstrationen angezettelt hätte. Ferner
hätte ich gegen den König gehetzt und
die Monarchie geschmäht; ich hätte
zuviel von der französischen Revolution
geredet und dabei Ludwig XVI auf beleidigende
Weise erwähnt; ferner hätte ich
behauptet, dass der Islam die Monarchie ablehnt
und die Könige als die Verderber der
Gesellschaft bezeichnet.
Ich erinnere mich noch lebhaft an die
Umstände, unter denen mein Verhör
stattfand. Die Verhältnisse in der Zelle
waren barbarisch. Auf höchstens vier
Quadratmetern waren zehn Menschen zusammen-
gepfercht. Alle halbe Stunde wurde Wasser in
eine der Ecken gespült. Alle Viertelstunde
"ffnete der Wärter die Lucke in der
Metalltüre und leuchtete mit der Lampe in
die Zelle. Wir kamen uns vor wie Ratten. Es gab
kein elektrisches Licht, und das einzige
Geräusch kam von dem ab und zu durch das
Toilettenloch im Fussboden rinnenden Wasser.
Nach einer Woche wurde ich auf freien Fuss
gesetzt, da man weiteren Schülerprotesten
vorbeugen wollte. Die Krawalle waren
schliesslich von den Schulen ausgegangen, und
die Behörden wollten zusätzliche
Unruhen und Streiks vermeiden.
Immer, wenn ich nach einer Verhaftung die
Polizeistation verliess, fühlte ich mich
als unbewaffneter Zivilist noch machtloser und
hilfloser als je zuvor. Wie leicht hätten
die Polizisten mich doch töten können,
als ich in der Zelle sass! So war es mit
Hunderten von anderen Gefangenen geschehen.
Nun war die Zeit gekommen, wo ich den
Beschluss fasste, Offizier zu werden. Der
einzige normale Weg zur Offizierskarriere
verläuft durch die königliche
Militärakademi in Meknes. Dort meldete ich
mich im Herbst 1965 an.
Einige Tage darauf wurde Ben Barka in Paris
auf offener Strasse entführt. Ben Barka war
ein typischer, gebildeter französischer
Sozialist im marokkanischen Gewande. Er war
gewissermassen eine Mischung von Franois
Mitterrand (ein Linksmacchiavellist) und Edgar
Faure (ein Rechtsmacchiavellist).
Als Opportunist hatte er tatkräftig dazu
beigetragen, Hassan dem Zweiten an die Macht zu
helfen, und nun war er zum Opfer des Despoten
geworden. "Nein", dachte ich mir, "Ben Barkas
Weg führt nur zum marokkanischen Palast und
nach Paris. Ich muss mich dem Heer anschliessen,
damit sich mir die Chance bietet, die Probleme
Marokkos auf radikale Weise zu lösen."
Auf der Militärakademie klärte man
mich darüber auf, dass ich die Erlaubnis
des Erziehungsministers benötigen
würde, um eine militärische Karriere
einschlagen zu dürfen. Schliesslich war ich
Lehrer. Mein Antrag wurde abgelehnt. Ich fand
mich widerwillig mit der abschlägigen
Antwort ab und unterrichtete weiter in
Casablanca.
Am Ende des Schuljahres 1965/1966 bewarb ich
mich abermals um die Aufnahme an die
Militärakademie. Ich suchte das
Verteidigungs- ministerium auf und traf mich mit
Minister Ahrdan, einem Französling, der
während der Kolonialzeit Offizier in der
französischen Armee gewesen war. Nach der
Selbständigkeit wurde er zu einer Art
Politclown und ideologischem Scharlatan. Ahrdan
verwies mich an den Kabinettssekretär und
Generalsekretär im
Verteidigungsministerium, der direkten Kontakt
mit dem König hatte.
Dieser hiess Ben Haroche, bekleidete den Rang
eines Majors und war zionistischer Jude. Er war
nächst dem König der eigentliche
Machthaber im Verteidigungsministerium. Major
Ben Haroche empfing mich, um mir mitzuteilen,
dass ich nicht die geringste Chance hatte, zur
Militärakademie zugelassen zu werden, doch
stehe es mir frei, mich mit dem Leiter der
Akademie in Verbindung zu setzen.
Ich folgte diesem Rat, doch erfolglos. Da
begab ich mich direkt zum Königspalast, wo
ich eine Audienz beim Chef des königlichen
Militärstabs verlangte. Dies war General
Madbouh. In Marokko liegt der Weg zum Erfolg in
persönlichen Kontakten und in der
Korruption. Es glückte mir, Madbouh von
meiner Berufung für die militärische
Laufbahn zu überzeugen.
Binnen zwei Jahren war ich ein perfekter
Offiziersaspirant, was unter anderem dazu
führte, dass ich zum Chefredaktor der
Akademie- zeitschrift "Le Flambeau" (öDie
Fackelö) ernannte wurde. 1968 wurde ich
Offizier. Der einzige Verweis, der mir
während der Zeit in Maknes erteilt wurde,
ging darauf zurück, dass ich mich zusammen
mit einigen Kameraden weigerte, an einem
Nachtmarsch teilzunehmen. Diese
Befehlsverweigerung, die dazu führte, dass
wir 27 Aspiranten nach Ahermoumou strafversetzt
wurden, war von den "Freien Offizieren" geplant
worden.
Während meiner Zeit in der
Militärakademi war ich nämlich mit
anderen Gegnern der korrupten marokkanischen
Monarchie in Kontakt gekommen. Offenbar war ein
Staatsstreich die einzige Möglichkeit, eine
Veränderung zustande zu bringen, und in der
Armee hatte man zu diesem Zweck eine geheime
Organisation gebildet, die sich "die Freien
Offiziere" (öles Officiers Libresö)
nannte. Zu dieser Organisation hatte ich mich
angeschlossen.
In Ahermoumou befand sich, wie bereits
erwähnt, die Unteroffiziers-
ausbildungsschule. Sie lag auf einem
Bergplateau, achtzig Kilometer von der Stadt
entfernt. Oberstleutnant Ababou war damals
Schulkommandant. Wieder führte mich mein
Geschick dort mit einem Mann zusammen, der sich
im Kampf gegen die Monarchie auszeichnen sollte.
Während Ababou in der Rif-Gegend in
Nordmarokko geboren waren, stammte ich aus
Tafraoute im Süden.
Bei einem Staatstreich galt es, die Kontrolle
über die Hauptstadt Rabat, den Armeestab,
das Innenministerium und die Radio- sowie
Fernsehstationen zu übernehmen. Die ganze
Operation war natürlich sehr riskant, aber
bei guter Planung gar nicht aussichtslos. An den
zwei Putschen, die tatsächlich versucht
wurden, war ich selbst beteiligt, im ersten Fall
mehr indirekt.
Der erste Putsch fand am 10. Juli 1971 statt.
Aus Sicherheitsgründen und um jene zu
schützen, die immer noch der marokkanischen
Armee angehören, darf ich nicht alle
Einzelheiten der Pläne sowie meiner Rolle
preisgeben, aber manches kann jetzt
enthüllt werden.
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