Ein Leben für Freiheit
Eine Selbstbiographie

Ahmed Rami

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Der König ist nackt !

 

Bis zu den Putschversuchen von 1971 und 1972 war der König weit mehr als ein gewöhnlicher Sterblicher gewesen. Der König von Marokko, erst Mohamed V, dann Hassan II, war eine Institution, die mit der Geschichte und den Traditionen des Landes verknüpft war. Die Monarchie wirkte für den Normalbürger erhaben und unnahbar, doppelt faszinierend durch den Luxus und Überfluss, mit dem sie sich umgab.

Aber innerhalb einiger Stunden am Nachmittag des 10. Juli 1971 war das Trugbild wie ein Spuk verflogen. Das ganze offizielle Marokko konnte mitansehen, wie sich der Halbgott auf dem Aborte zu verkriechen suchte und diesen mit erhobenen Händen verliess, während ihn ein einfacher Soldat mit seiner Maschinenpistole vor sich hertrieb. Man sah auch, wie sich derselbe König an einer Mauer auf den Boden setzte, klein und unscheinbar inmitten einer aufgewühlten Menge, so dass jene, die ihn zu töten planten und ihn suchten, um seine Exekution zu filmen, ihn nicht wiedererkannten! Welch unaussprechliche Demütigung!

Die Schilderung jener denkwürdigen Ereignisse verbreitete sich in Windeseile über ganz Marokko und hinterliess beim einfachen Volk einen gewaltigen Eindruck. Man konnte also in den Palast eindringen, den König erniedrigen und ihm stundenlang Todesangst einjagen! Einfache Soldaten hatten das fertiggebracht. Wohl überlebte Hassan, doch er stand gewissermassen splitternackt auf der Bühne.

Diese Demontage seines Ruhms nahm ihren Fortgang. Sie begann gleich nach dem gescheiterten Putsch; überall, in allen gesellschaftlichen Kreisen, wurde das Geschehen offen und mit spitzer Zunge kommentiert. Alles, wovon man wusste, aber nicht zu sprechen wagte - Skandale, Korruption, politische Stümpereien - wurde nun unverblümt erörtert. Ganz besonders eingehend sprach man über das Privatleben des Königs, manchmal mitleidsvoll, manchmal hasserfüllt, doch niemals mit Achtung. Für viele war es vorbei mit der Verehrung seiner Person, die zeitweise fast religiöse Züge angenommen hatte.

 

Die Geschehnisse eines einzigen Tages hatten das ganze System radikal in Frage gestellt. Wie sollte dieses noch länger funktionieren? Es fusste auf dem Prinzip eines unfehlbaren Königs, der selbst alles entschied und die Macht persönlich ausübte, wobei er Institutionen wie das Scheinparlament als Fassade vor sich herhielt.

Dieses "Parlament" vertrat keine eigenständigen politischen Kräfte und war im Grunde so überflüssig wie ein Kropf. Die Minister wurden von Hassan ausgewählt, ausgetauscht und abgesetzt, und mit den höheren Staatsbeamten verhielt es sich genau gleich. Hinsichtlich der exekutiven und legislativen Macht gab es grundsätzlich zwei Wege: den normalen administrativen, dr allerdings stets blockiert war, und einen parallelen Weg, der direkt vom König zu seinen "Vollstreckern" führte, die an den formell Verantwortlichen vorbei walteten und schalteten.

Dasselbe galt in hohem Grad auch für das Heer. Dieses hatte seinen Stab, seine Hierarchie und seine Ränge. Neben der klassischen Organisation hatte der König sein eigenes System der direkten Verbindungen zu den einzelnen Militärregionen aufgebaut. Der Stabschef war nur eine Art Marionette. Die wirklichen Befugnisse lagen bei Gerneral Madbouh, der sich beim Putsch als "Cäsarmörder" erweisen sollte.

Wenn es um alltägliche Belange wie den Einkauf von Kartoffeln und Benzin ging, war der Stab zuständig. Ging es aber um Verproviantierung in grossem Massstab, umfassende Manöver oder Waffenkäufe, so wandte man sich über Madbouh direkt an Hassan. Offiziere, die bei ernsthaften Versäumnissen bestraft wurden, erhielten ihre Strafe vom König persönlich.

So funktionierte das System auch auf allen anderen Gebieten. Und das System hing davon ab, dass vom Mann auf dem Thron eine Ausstrahlung, eine Aura ausging, dass er der "Führer der Gläubigen" und zugleich ein moderner, aufgeklärter Herrscher war.

 

 

 

Daraus ergaben sich immer wieder verwirrende Situationen. So liess Hassan einmal bei einer Versammlung, an der er nicht selbst teilzunehmen geruhte, zur Eröffnungsfeier eine Rede verlesen. Dabei griff er einen aus dem 16. Jahrhundert stammende Brauch auf. Der delegierte Minister sollte das Blatt mit der Rede zweimal küssen, als sei der König selbst anwesend. Gleichzeitig wurden zwei Kolonnen mit Palastlakaien vor der Rede in den Saal geschickt. Sie verneigten sich und riefen: "Möge Allah den König bewahren." Das ganze erhebende Schauspiel wurde zur Erbauung des Volkes am Fernsehen ausgestrahlt. Vielleicht wunderte sich das Volk doch ein wenig über den Minister, der drei Blätter Papier mit Statistiken abküsste.

Abgesehen von solchen denkwürdigen Anekdoten möchte ich einen kurzen Versuch unternehmen, zu zeigen, wie das System funktionierte. Sein Grundgedanke war eine Rückkehr zu traditionellen, nichtislamischen dekadenten Werten.

Wie bereits früher erwähnt, ist die monarchistische Staatsform nämlich mit dem Islam unvereinbar. Die unislamischen dekadenten Werte wurden ins Regierungssystem eingegliedert, indem man ganz einfach zu dem marokkanischen Feudalsystem "Makhzen" zurückkehrte - dieses existierte schon lange vor der Kolonialzeit und passte zu einer feudalen Stammesgesellschaft - und diesem eine äusserliche neue Form verlieh. Dieses "Makhzenö-System beruhte auf dem Grundsatz, dass die Diener des Sultans - Kaiden, Berberhäuptlinge, Provinz-gouverneure - ihren Lohn "direkt vom Volk" erhielten. Auf eine moderne Gesellschaft übertragen kann dies nur zu Korruption in riesenhaftem Ausmass führen.

Nach der Skhirat-Revolte brachen die Dämme. Ein hässlicher Skandal nach dem anderen flog auf. Wäre es allerdings nur um Skandale gegangen, und mochten sie noch so riesig sein, so hätte man die Wogen noch glätten können. Man hatte einige lautstark orchestrierte Schauprozesse gegen die Verantwortlichen geführt, und alles wäre beim alten geblieben. Das Dramatische lag darin, dass die Korruption wie ein Krebsgeschwür wucherte und das gesamte System infizierte. Eine Hand wusch die andere. Allseits anerkannter Meister im Schmieren war der König selbst. Wie sollte sich das Land da entwickeln? 123 Der ärmste Bauer wusste ganz genau, dass er ein Huhn als Geschenk mitbringen musste, wenn er ein wenig Saatgut leihen wollte. Jeder Arbeiter wusste, dass die "Steuer" für einen Pass 500 Dirham betrug, die man dem zuständigen Bürohengst im Innenministerium diskret auf den Tisch legte. Jeder Marokkaner wusste, dass der König selbst der grösste Produzent von Zitrusfrüchten im Lande war. Jeder, dem eine gewisse Verantwortung oblag, musste einsehen, dass ein Budget "mit tausend Löchern in tausend Taschen" keinen funktionstüchtigen öffentlichen Dienst aufrechterhalten konnte.

Die Korruption führte dazu, dass alles und jedes verfälscht war. Keine offizielle Ziffer war glaubhaft. Kein Mensch wusste, in welchen trüben Kanälen die Staatsgelder versickert waren - nein, man wusste es nur allzugut. Während 14 Millionen Bauern und Arbeiter über 45% des nationalen Einkommens verfügten, teilten sich 800'000 Privilegierte die übrigen 55%. Und die Kluft zwischen arm und reich wuchs beständig.

"Die Skhirat-Ereignisse waren für uns keine Bombe, sondern ein Wecker", sagten manche Marokkaner. "Wir wussten, dass Veränderungen dringend erforderlich waren. Das Problem lag nur darin, dass wir nicht wussten, wie und wann.öAndere Marokkaner vernahmen die Nachricht von den beiden Putschversuchen 1971 und 1972 mit ungläubigem Erstaunen.

 

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1. Vorwort des Übersetzers

2.
Vorwort des Verfassers

3.
Meine Heimat

4.
Die ersten Jugendjahre

5.
Der Neokolonialismus

6.
Ein junger Freiheitskämpfer

7.
Die erste Revolte

8.
General Oufkir

9.
Neue Pläne für eine Revolte

10.
Ein misslungener Staatsstreich

11.
Die Flucht

12.
Das Schicksal General Dlimis

13.
Der König ist nackt !

14.
Warum das Militär ?

15.
Die islamische Welt

16.
In Schweden


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