11
Die Flucht
Mir war nun klar, dass ich keine Minute zu
verlieren hatte. Sie hatten ja die Kassette und
wussten alles. Sie war nicht im Auto; ich hatte
dort selbst gesucht. Sie befand sich, wie ich
sicher wusste in der Tasche des Generals. In
meinem Zimmer in der Kaserne gab es einige
Geheimpapiere, die andere Offiziere, meine
Freunde, kompromittieren konnten.
Aus diesem Grunde fuhr ich zur Kaserne und
betrat diese auf dem gleichen Wege, auf dem ich
sie verlassen hatte. Gerade als ich im Begriff
war, meine Paiere zu verbrennen, kreuzte der
Panzerchef auf und teilte mir mit, der
Bereitschaftsgrad sei gesenkt worden. Ich solle
meine Leute anweisen, ihre Waffen abzugeben, und
ihnen dann 48 Stunden Urlaub genehmigen.
Ich sagte meinem Adjutanten, meine Kompanie
solle von niemandem Befehle entgegennehmen
aussser von mir, und sie sollten auf meine
Anweisungen warten. Dann verbrannte ich die
Papiere im Waschbecken. Als nächstes
erteilte ich meinem Adjutanten den Befehl, die
Soldaten zu inspizieren und ihre Waffen
einzusammeln. Ich müsse mal auf die
Toilette, werde aber gleich zur Inspektion
zurück sein. Von der Toilette führte
der Ausgang Richtung Krankenhaus. Dort stand ein
Wachposten. Ich schnauzte ihn gehörig an
und erteilte ihm eine Mohrenwäsche wegen
mangelnder Aufmerksamkeit. Er sollte glauben,
ich sei auf Inspektionstour.
Sobald ich die Kaserne verlassen hatte, fuhr
ich zu meiner französischen Freundin. Ich
hatte kein Geld bei mir und musste mir deshalb
einen kleinen Betrag von ihr ausleihen. Wir
verabschiedeten uns, und dann fuhr ich mit
meinem Wagen zu einer Garage ausserhalb der
Stadt. Dort tauschte ich meine Uniform gegen
Badehosen, Jeans und Pullover. Auch meine
Pistole und alle Papiere, die Aufschluss
über meine Identität vermittelten,
liess ich zurück.
Viel später sollte ich erfahren, dass
die Polizei meiner Freundin einen unwillkommenen
Besuch abgestattet und dort tagelang bis an die
Zähne bewaffnet auf mich gelauert hatte.
Sie hofften wohl, ich würde später
dort auftauchen. 104 Meine Freundin wurde
festgenommen und verhört, doch nach
Intervention des französischen Botschafters
liess man sie frei. Sie war nicht in meine
Pläne eingeweiht gewesen, und die
Polizisten mussten sie laufen lassen. Vorderhand
durfte sie aber das Land nicht verlassen. Sie
glaubte lange Zeit, ich sei tot. Nachdem ich die
Garage verlassen hatte, nahm ich ein Taxi und
fuhr in ein Slumviertel namens Yakoub-el-
Mansour. Dies war die erste Etappe meiner
Flucht.
Ich wanderte südwärts dem Strand
entlang, weg von der Hauptstadt. Der Strand war
voll von gutgelaunten Badegästen. Sie
kümmerten sich nicht im mindesten um die
Geschehnisse des vergangenen Tages, sondern
tollten im Sand herum und kühlten sich in
den Wellen. Nur mit Badehosen bekleidet, ging
ich immer weiter nach Süden. In der Hand
hielt ich meine Jeans und einen Pullover. Das
war alles, was ich auf meiner Flucht bei mir
hatte. Alles andere liess ich hinter mir
zurück: meine Arbeit, meinen Lohn, meine
Wohnung, mein Auto und meine grosse Bibliothek,
nicht aber meine kühnen Träume von
einer menschenwürdigeren Zukunft und einer
besseren Welt.
Doch vergass ich ob dieser Träume auch
die praktischen Probleme nicht, denen ich mich
nun gegenübersah. Den ganzen Tag lang ging
ich dem Strand entlang und wich allen grossen
Strassen so gut es ging aus. Polizei und
Militär hatten bestimmt überall
Strassensperren errichtet.
Mein erster Gedanke war, nach Süden in
die Sahara zu flüchten. Dort konnte ich
vielleicht bei den Beduinen leben, bis sich die
Lage entspannt hatte. Ich erinnerte mich an die
Beduinen aus der Sahara, die an meinem
Heimatdorf vorbeiwanderten. Mein Vater anerbot
ihnen, sie dürften die von den in die
Städte abgewanderten Dorfbewohnern
verlassenen Häuser und cker ohne Bezahlung
übernehmen. Die Beduinen lehnten dankend
ab; ihr einziges Eigentum sei ihre Freiheit, und
sie wollten nicht an ein Stück Erde und
Beton gefesselt sein.
Ein genaues Ziel hatte ich also nicht. Nie im
Leben war ich in einer solchen Situation
gewesen, und ich hatte nie damit gerechnet, in
eine solche zu geraten. Alles war so
unerhört rasch gegangen, und ich hatte
keinen Gedanken an die Möglichkeit
verschwendet, der Putsch könne scheitern
und ich mit dem Leben davonkommen. Sieg oder
Tod, das war die Alternative gewesen. 105 Mir
war klar, dass ich mein Land vielleicht
verlassen musste, und dies erschien mir so
aussichtslos wie der Plan einer Reise zum Mond.
Ich dachte an die vielen Offiziere, die nach der
Skhirat-Revolte ins Ausland flüchten
wollten. Sie wurden allesamt festgenommen und
hingerichtet.
Es war der 17. August. Ich setzte meine
schier endlose Wanderung fort. Zwischen Rabat
und Skhirat führt eine der grössten
Strassen des Landes auf einer Brücke
über einen Fluss unmittelbar nördlich
von Skhirat. Ich ahnte, dass die Polizei bei der
Brücke Kontrollen durchführte, und
beschloss deshalb, den Fluss zwischen
Brücke und Mündung zu durchschwimmen.
Es gelang mir, obschon ich ein schlechter
Schwimmer bin. Schliesslich ging es um Leben und
Tod. Bei Skhirat war ich gezwungen, die
Küste zu verlassen und den grossen Strassen
entlang landeinwärts zu gehen.
Als ich im Begriffe war, die grosse Strasse
zwischen Rabat und Casablanca zu
überqueren, fiel mein Blick auf einen Mann,
der am Strassenrand Trauben feilbot. Ich war
sehr hungrig und machte halt, um ein paar
Trauben zu kaufen. "Wohin führt denn dieser
Weg?" fragte ich und zeigte landeinwärts.
"Keine Ahnung; ich bin nicht von hier",
erwiderte der Verkäufer. Gerade in diesem
Augenblick kam ein Mann auf einem Moped
herangefahren, und der Verkäufer meinte,
ich solle doch den fragen.
öWas willst du wissen?" fragte der
Mopedfahrer. "Ich kenne mich hier nicht aus.
Gestern bin ich von Marrakesch nach Rabat
gekommen, um einen Freund zu besuchen. Aber er
war nicht dort, und darum dachte ich mir, am
besten gehe ich nach Marrakesch zurück.
Leider hab ich fast kein Geld. Ich fahre per
Anhalter oder gehe notfalls zu Fuss.ö
öHast du einen Ausweis?" fragte er in
hochmütigem Ton. "Nein, den habe ich leider
nicht mitgenommen. Ich wusste doch nicht, dass
ich ihn brauchen würde."
Der Mann war ein Polizist. Mir wurde
himmelangst. Ich bin geliefert, dachte ich mir,
versuchte aber, meine Angst so gut wie
möglich zu verbergen. "Wo schläfst du
denn heute nacht?" bohrte er. "Weiss ich's denn?
Vielleicht lädt mich irgendeine
gastfreundliche Seele zu sich ein.ö
öDu darfst im Knast schlafen", stellte
er mir liebenswürdig in Aussicht und
blickte mich scharf an. "Ich kann ja wohl
irgendwo übernachten", erwiderte ich. "Ich
habe wirklich keine Zeit mehr für dich,
Bürschchen", sagte er ganz unerwartet. "Du
kannst von Glück reden, dass ich
Wichtigeres zu tun habe, als mich um
Landstreicher wie dich zu kümmern. Wenn du
auf dieser Strasse weitergehst, landest du so
oder so im Bau. Dort an der Strassensperre
nehmen sie solche Vögel wie dich
nämlich bestimmt genauer unter die
Lupe."
Wie in allen anderen Polizeistaaten
verschafft der Polizistenberuf in Marokko hohe
Autorität. Die Polizei jagt den Menschen
eine Heidenangst ein. Jeder windige Polizist
spielt sich als kleiner Despot auf und
betrachtet die gewöhnlichen Sterblichen als
eine Art Tiere. Der Traubenverkäufer bekam
es mit der Angst zu tun und schenkte dem Bullen
die Hälfte seiner Früchte.
Ich machte mich eilends aus dem Staub und
folgte der Strasse, auf die ich vorher gezeigt
hatte. Nach einer Meile überkam mich
abermals die Müdigkeit. Ich dachte mir, die
Polizei habe sicher wie üblich an den Ein-
und Ausfahrten zu den Städten und den
grossen Wohnbezirken Wegsperren errichtet. Am
besten versuchte ich wohl, per Anhalter
weiterzukommen und vor der nächsten
grösseren Stadt, Bouznika,
auszusteigen.
Ich ging zur Hauptstrasse und stoppte einen
Wagen an, der sich als nichtregistriertes
"Privattaxi" erwies. Der Chauffeur nannte den
Fahr- preis. "Einverstanden", meinte ich, "aber
unter der Bedingung, dass du einen Kilometer vor
Bouznika anhältst". "Warum denn das?"
wollte er wissen. "Weil ich keinen Ausweis bei
mir habe", erklärte ich. Etwa einen
Kilometer vor der Stadt bat ich ihn, anzuhalten,
aber er wollte nicht hören. Ich wiederholte
meine Bitte, stiess jedoch auf taube Ohren. Er
fuhr bis zu der von der Polizei errichteten
Sperre. In der Schlange vor uns warteten
vielleicht zehn Autos. Mein Chauffeur reihte
sich nicht in die Schlange ein, sondern fuhr an
dieser vorbei direkt zu den Polizisten. Deren
Chef geriet in Rage und herrschte ihn an: "Mach
bloss, dass du wegkommst, du Blödmann, das
nächste Mal wartest du gefälligst wie
alle anderen." Der Chauffeur liess sich das
nicht zweimal sagen. Ich begreife bis heute
nicht, warum sie mich nicht kontrolliert haben.
107 Ohne weiteren Kommentar brachte ich ihn
dazu, ins Zentrum von Bouznika zu fahren und
mich dort abzusetzen. Von dort aus ging ich
sofort in Richtung eines Waldes weiter. Meine
Sandalen zerfielen, und ich setzte meinen Weg
barfuss fort. Meine Füsse schmerzten, aber
ich gönnte mir keine Rast. Es wurde so
dunkel, dass ich kaum noch die Hand vor den
Augen sah, doch ich hörte das Rauschen des
Atlantiks, denn ich war nun wieder nahe bei der
Küste.
Ich gab mich allerlei Träumereien hin.
Könnte ich doch wie ein Vogel wegfliegen!
Jenseits des Atlantiks lockte die Freiheit! Wie
sollte ich bloss von hier wegkommen? Nur eine
unendliche Wasseröde trennte mich von der
Freiheit. Noch heute, nach so vielen Jahren,
kehrt dieser Traum bisweilen wieder, und ich
flüchte vor der marokkanischen Polizei, die
mir dicht auf den Fersen ist. Dieses Erlebnis
hat dazu geführt, dass ich alle Grenzen
zwischen Ländern und Völkern
verabscheue, und ich sehne den Tag herbei, wo
diese Grenzen der Vergangenheit
angehören.
Das ist natürlich noch eine Utopie. Doch
viele heute Wirklichkeit gewordene
Menschenrechte waren früher Utopien. Als
ich lange nach den hier geschilderten
Ereignissen einmal vom schwedischen Dalarna nach
Norwegen fuhr, ohne irgendwelchen
Grenzpolizisten zu begegnen, war ich richtig
glücklich. Ich träume von dem Tag, an
dem die Grenzen zwischen den islamischen
Ländern verschwinden. Europa ist auf diesem
Wege bereits weit fortgeschritten. Alle
Zivilisationen, Kulturen und Religionen sollten
nach mehr Freiheit und weniger Verboten streben.
Ich habe mich stets als Weltenbürger
betrachtet und befürworte eine
internationale Zusammenarbeit gegen jene
Machthaber, die ihre Völker knechten.
Schliesslich arbeiten die Diktatoren auch
über die Grenzen zusammen, um den
Freiheitswillen der Völker in Schach zu
halten.
Nach dem gescheiterten Skhirat-Putsch
lieferte die algerische Polizei zwei Offiziere,
denen die Flucht über die algerische Grenze
gelungen war, an Marokko aus. Und auch das ach
so demokratische England sandte zwei Offiziere,
die mit einem Hubschrauber nach Gibraltar
geflohen waren, nach Marokko zurück. Sie
wurden später füsiliert, weil sie das
Verbrechen begangen hatten, für die
Freiheit zu kämpfen.
Die Hunde bellten im Dunkel der Nacht. Ich
war todmüde und legte mich auf dem Strand
zur Ruhe. Es war recht kalt, und der Sand war
etwas feucht. Trotz des andauernden Hundegebells
und des Brausens des Atlantiks schlief ich
einige Stunden lang tief. Es war immer noch
dunkel, als ich erwachte. Ich grübelte
abermals über meine Lage nach. Aus dieser
Not kann mich nur Gott retten, dachte ich; ich
stand auf, obgleich es immer noch finster war,
verrichtete mein Morgengebet und flehte zu Gott
um Hilfe.
Schliesslich, so sagte ich mir, hatte ich als
Moslem nur meine Pflicht erfüllt, indem ich
mich dem "Jihad" anschloss, ist dieser doch die
grösste und bedeutendste Pflicht, die der
Koran dem Gläubigen auferlegt. Der
islamische Kalender beginnt mit einer Flucht,
der Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach
Medina, wo er Zuflucht vor seinen Widersachern
suchte.
Gottes Gesandte Jesus und Mohammed sind immer
meine Vorbilder gewesen. Sie führten ihren
Kampf gegen das Böse in einer Welt von
Feinden, in der die Kräfte der Finsternis
die Oberhand hatten und die breite Masse
gleichgültig und passiv war. Die Situation
in den heutigen öislamischen" Staaten
gleicht in mancher Hinsicht der "Jahilia", jener
vom Propheten Mohammed bekämpften
korrumpierten und dekadenten Gesellschaft, in
der die Menschen Götzen anbeteten. Das Wort
"Jahilia" bedeutet "Ignoranz" oder
"Obskurantismus".
Schon als Kind, später als Student,
Lehrer und schliesslich als Offizier hatte ich
einen stetigen Kampf geführt. Dessen Ziel
bestand nicht darin, Karriere zu machen und auf
Kosten der Armen in die oberen
Gesellschaftskreise aufzurücken, sondern
darin, das System zu verändern - durch den
Kampf gegen Tyrannei und Diktatur, für
Freiheit und Gerechtigkeit. Ich entdeckte, dass
der Ausdruck öGerechtigkeit" in Marokko
eine leere Phrase war. Wer ein Gewissen hatte,
konnte sich in einer Gesellschaft nicht
glücklich fühlen, die von Strolchen,
Narren und Galgenvögeln regiert wurde. Die
Hunde, die ich im Dunkel bellen hörte,
erinnerten mich an jene Hyänen, die mein
Land ausplünderten und nun hinter mir her
waren.
Im Morgengrauen setzte ich meine Flucht nach
Süden fort. Ungefähr um zehn Uhr kam
ich nach Mohamedia, eine kleine Stadt an der
Küste, nicht allzu weit von Casablanca
entfernt. Ich sah wie ein Landstreicher aus.
Meine Kleider waren feucht und verschmutzt. Ich
begab mich ins Stadtzentrum, um eine Djebella
(so heisst das marokkanische Nationalgewand) zu
kaufen und um in einem schmierigen
Fischrestaurant, das ich in einem Slum
entdeckte, einen Imbiss zu mir zu nehmen. Die
Leute sassen am Tisch dichtgedrängt
nebeneinander, und ich hörte nun, dass man
vom "Putsch" sprach. Aufgrund des Polizeiterrors
sind die Menschen gezwungen, sich zu verstellen,
denn sie fürchten und misstrauen einander
und wagen es nicht, über "Politik" zu
reden.
In meine Djebella gehüllt, die mir das
Aussehen eines jungen Bauernburschen auf dem Weg
zum Markt verlieh, setzte ich meine Reise nach
Casablanca fort. Es war Abend, als ich dort
eintraf. Ich dachte an jenen Tag in meiner
Kindheit zurück, als ich das erste Mal nach
Casablanca kam: ohne die leisteste Ahnung, wo
ich wohnen sollte, rechtlos und einer
unbekannten Zukunft ins Gesicht blickend.
Ich ging nun zum Strand, um für die
erste Nacht ein Zelt zu mieten. In einem Hotel
konnte ich unter keinen Umständen
übernachten, denn selbst die
erbärmlichsten Kaschemmen standen unter
Polizeikontrolle, und zudem hatte ich zuwenig
Geld. Verwandte oder Freunde aufzusuchen war
mich gleichfalls verwehrt, denn das Risiko war
einfach zu gross; die Polizei hatte sicher schon
herausgefunden, mit wem ich verwandt und bekannt
war, und es war damit zu rechnen, dass sie diese
Leute schärfstens überwachte. In
Marokko will jedermann bei der Polizei und den
Machthabern schön Wetter machen, aber
Oppositionelle meidet man wie die Pest.
Als ich zum Strand kam, war es bereits recht
spät. Die betreffende Stelle heisst Ain
Diab. Ich legte mich einfach nahe beim Meer in
den Sand. Dort konnte ich jederzeit verhaftet
werden. Bis jetzt hatte ich Glück gehabt,
aber ich wusste, dass mein Leben an einem
verflucht dünnen Faden hing.
Einen langfristigen Plan zu entwickeln war
sehr schwierig, und zwar vor allem deshalb, weil
ich fast mittellos war. Einen Ausweis besass ich
auch nicht. Ich musste buchstäblich von
Stunde zu Stunde improvisieren. Am nächsten
Tag kaufte ich mir eine Perücke, die vier
Fünftel meiner Barschaft verschlang. Ich
hatte nun nur noch eine minime Summe in der
Tasche.
Mit der Perücke auf dem Kopf ging ich
dem Strand entlang zu einer Stelle, wo mehrere
Felsen beieinanderstehen. Die Stelle liegt
südlich von Casablanca und heisst, wie
bereits erwähnt, Ain Diab. Tagsüber
kann man zu Fuss zu jenen Felsen gelangen, doch
in der Nacht steigt das Wasser so, dass sie ein
kleines Eiland bilden. Hier würde ich
nachts sicher sein, dachte ich. Inmitten der
Felsen befand sich das Grab eines
öMarabout", eines Heiligen. Man konnte auch
Zelte mieten. Dort hatte man bestimmt seine Ruhe
vor Polizisten und anderen lästigen
Zeitgenossen, versuchte ich mich selbst zu
beruhigen.
Der Schlafplatz im Zelt kostete eine sehr
bescheidene Summe, nur ein Vierzigstel dessen,
was ich für die Perücke bezahlt hatte.
Ich schlief sogleich ein, doch wurde ich
jäh aus dem Schlaf gerissen - offenbar
gingen da einige Leute von Zelt zu Zelt. Ich
hörte, wie sie nach Ausweispapieren
fragten. Sie hatten eine Taschenlampe. Was
sollte ich nun bloss tun? Wenn ich das Zelt
verliess, würden sie mich sofort entdecken.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf
sie zu warten. Ich nahm mir vor, mich nicht
widerstandslos zu ergeben. Ich würde
versuchen, einem der Gendarmen die Waffe zu
entreissen. Wenn ich ihnen in die Fänge
geriet, waren meine Tage gezählt, und mein
Tod wurde nach qualvoller Folter erfolgen. Die
kriegen mich nicht lebend, schwor ich mir.
Ich hörte, dass sie auf dem Weg zu
meinem Zelt waren. Als sie hereintraten, tat ich
so, als ob ich schliefe. Sie leuchteten mir mit
der Taschenlampe ins Gesicht. Ich hatte die
Perücke auf dem Kopf. Wie durch ein Wunder
löschten sie die Taschenlampe, schlossen
den Zelteingang wieder und gingen zum
nächsten Zelt, wo sie wiederum gebieterisch
nach Ausweispapieren verlangten. Ich kann mir
bis zum heutigen Tage nicht erklären,
weswegen sie nicht nach meinen Papieren gefragt
haben. Es war Gottes Wille, dachte ich.
Am folgenden Tage kehrte ich ins Zentrum von
Casablanca zurück. Zuallererst
benötigte ich etwas Geld. Ich beabsichtigte
einen Kameraden aufzusuchen; er hiess Mesfioui
und war UNFP-Mitglied. Zusammen mit einem
anderen Militanten, Omar Ben Jelloun, hatten wir
derselben Parteisektion im Quartier Derb Ghalef
angehört. Mesfioui war schon zur
Kolonialzeit ein bekannter
Widerstandskämpfer gewesen. Nachdem ich
Offizier geworden war, hatte ich die Verbindung
mit ihm verloren. Wir hatten uns seither nur ein
einziges Mal bei einer Parteiveranstaltung
getroffen, und zwar rein zufällig. Da ich
ihn nur als Genossen in einer kleinen
Parteisektion kannte, nahm ich an, dass die
Behörden nichts von unserer Bekanntschaft
wussten. Ich erinnerte mich, dass er im Viertel
Maarif in Casablanca wohnte, wo ich einst als
Kind gearbeitet hatte.
Als ich ihn aufsuchte, trug ich meine
Perücke. Ich klingelte. Ein Kind
öffnete die Tür. Ich sagte ihm, ich
wolle Mesfioui besuchen. "Wer sind Sie?" fragte
das Kind. "Mohamed Alaoui", entgegnete ich. Dies
war der Name eines bekannten Journalisten der
"oppositionellen" Zeitung Al-Moharir. Ich kannte
ihn nicht persönlich, wusste aber, dass
Mesfioui in Verbindung mit ihm stand und dass
sein Name mir nützlich sein konnte.
Mesfioui kannte mich nicht wieder. Er blickte
mich verwundert an. Unaufgefordert trat ich ein,
nahm die Perücke ab und stellte mich als
Ahmed vor. Dann erzählte ich ihm alles. Er
war sehr aufgeregt und verängstigt und
sagte: "Du willst mich ins Verderben reissen. Du
willst mich ihnen ans Messer liefern. Warum
kommst du ausgerechnet zu mir?" fragte er
erbittert. "Ich brauche deine Hilfe, ein wenig
Geld oder einen guten Rat. Kannst du mir sagen,
wie ich mich aus dieser Lage retten kann?" sagte
ich. Er dachte eine Weile nach und sagte etwas
ruhiger, aber immer noch in gereiztem Ton: "OK,
kannst du in einer Stunde zurückkommen?"
Ich kehrte nie wieder zu ihm zurück.
Einige Monate später erfuhr ich, dass
der König ihn als seinen persönlichen
Stellvertreter an irgendeinen Kongress in Beirut
geschickt hatte. Vermutlich ging er, sobald ich
sein Haus verlassen hatte, gleich zur Polizei
und verriet mich dort. Meine Intuition hatte
mich nicht im Stich gelassen.
Nun suchte ich einen anderen Bekannten auf,
den ich allerdings nicht sehr oft getroffen
hatte. Er war Anwalt, tief religiös und
grundanständig. Politisch war er nicht
aktiv. Er empfing mich sehr freundlich, hatte
aber nur eine kleine Summe - 400 Dirham - bei
sich. Ich sollte am folgenden Tag wiederkommen,
sagte er, dann könne er mir mehr Geld
geben. Ich nahm die 400 Dirham, wollte aber
nicht wiederkommen.
Abermals ging ich zum Strand hinunter, aber
nicht an die gleiche Stelle wie zuvor. Auch dort
wurden Zelte vermietet. Doch der Wächter
erklärte mir, man könne sie nur
tagsüber mieten, nicht für die Nacht.
Ich machte ihm weis, ich sei ein mausarmer
Student aus Marrakesch und habe nicht genug Geld
für ein Hotel. Darauf meinte er, ich
dürfe in seinem eigenen Zelt
übernachten, das nahe bei seinem Haus
aufgestellt war. Ich willigte sofort ein. Er lud
mich auch zum Abendessen ein.
Während wir bei Tisch sassen, trat sein
Bruder ein. Ich wurde diesem als Student aus
Marrakesch vorgestellt, der hier auf Besuch sei.
Die beiden Brüder begannen über den
"Putschversuch" zu reden, der zu jener Zeit in
aller Munde war. Der Bruder erwies sich als
Mitglied der Geheimpolizei. Er erzählte,
die Gendarmen seien einem Offizier auf den
Fersen, der am Putsch beteiligt gewesen und dann
"desertiert" sei. öEs gibt in ganz Marokko
keinen Bullen, der nicht nach dem
Bürschchen Ausschau hält", lachte
er.
Ich mischte mich nicht in ihr Gespräch
ein, sondern gab ihnen zu verstehen, dass ich
mich nicht für Politik interessiere. Als
ich mich erhob, um mich auf den Weg zu meinem
Zelt zu machen, anerbot mir der Gastgeber, ich
könne ein paar Tage bei ihm wohnen, wenn
ich wolle. Platz gebe es genug. Ich nahm das
Angebot ohne zu Zögern an. Bei einem
Polizisten, oder dem Bruder eines Polizisten, zu
wohnen, war der beste Schutz, den ich mir denken
konnte. Niemand würde da auf den Gedanken
kommen, der geflüchtete Offizier
könnte letzten Endes ich sein. Mein
Gastgeber war Junggeselle und arbeitete als
Kriminalinspektor bei der
Sicherheitspolizei.
Ich blieb zwei Tage bei ihm. Es galt nur zu
verhindern, dass mich jemand erkannte, wenn ich
tagsüber draussen in der Stadt war. Ich
trug immer noch meine Perücke und liess mir
einen Bart wachsen. Nachdem ich mich von dem
Polizisten verabschiedet hatte, suchte ich eine
Gruppe von Jugendlichen auf, die ein paar Monate
zuvor mit mir per Anhalter nach Rabat gefahren
waren. Ich wusste, wo sie wohnten, und niemand
war über unsere Bekanntschaft
unterrichtet.
Es handelte sich um zwei Jungen und drei
Mädchen, die während der Sommerferien
zusammen wohnten. Abends hatten sie jeweils
zahlreiche Besucher. Sie lebten in einer Villa;
ihre Eltern waren im Ausland. Alle nannten sich
"Maoisten". Das war damals gross in Mode, so wie
Jeans und lange Haare. An den Wänden hingen
Bilder von Mao Tse Tung und Che Guevara. Was
für seltsame Maoisten diese jungen Leute
doch waren! Sie nahmen Drogen und haschten
fleissig. Die meisten waren verzärtelte
Gören, und ihre Eltern hatten Geld wie
Heu.
Ich lehnte dankend ab, als sie mir Haschisch
anboten. Als ich meine Gebete sprach,
verhöhnten sie mich. Sie nannten mich einen
öReaktionär". "Religion ist Opium
für das Volk", kommentierten sie meine
Gebete altklug. Abends führten sie
spiritistische Sitzungen durch und vesuchten
Gläser mittels Gedankenkraft zu heben. Sie
hatten nichts anderes im Kopf als Hokuspokus,
Hasch, Schnaps und Wein. Ob ich Mao kenne,
wollten sie wissen. "Ja", antwortete ich. "Aber
wenn sich der Chinesenmao mit Haschisch
abgegeben hätte, wäre ihm seine
Revolution nie geglückt."
Ich dachte lange über den geistigen
Zustand der marokkanischen Jugend nach. Als sich
Mao und Lin Biao in China zerstritten, spalteten
sich die Marxisten an der Universität Rabat
über Nacht in Maoisten und Linbiaoisten
auf. Kam es hingegen in Marokko zum Bruch
zwischen Ben Barka und Ben Sedik, war aus China
nichts von einem Zwist zwischen Benbarkaisten
und Bensedikisten zu hören. Dieses Beispiel
zeigt, wie wir in der Dritten Welt von
importierten Ideologien abhängen und wie
sehr es unseren Linken an Verankerung in unserer
eigenen Realität fehlt.
Unsere linksgerichteten Jugendlichen waren
stolz auf die Revolutionen Maos und Castros,
doch sie selbst palaverten nur und gaben sich
den Freuden des Haschisch hin. Sie waren ideale
Objekte für die ideologische Invasion aus
dem Westen. Wenn unsere Universitäten und
Schulen solche Jugendlichen hervorbringen, ist
es wohl besser, die Universitäten und
Schulen zu schliessen und eine radikale
kulturelle und ideologische Revolution zu
entfesseln.
Ich bin wohlverstanden kein Feind der
westlichen Kultur und Zivilisation. Doch ehe wir
Muselmanen mit dieser friedlich koexistieren
können, müssen wir uns auf unsere
eigenen Wurzeln besinnen. Was wir von Westen
übernehmen, ist nicht das Positive, sondern
das Negative, nämlich Schund und Dekadenz.
Wir produzieren nicht, sondern konsumieren
lediglich. Wir sind nicht die Akteure der
Geschichte, sondern deren Objekte. Weder
kulturell noch politisch führen wir eine
eigene Existenz.
Noch so viele Mao- und Che-Guevara-Bilder an
den Wänden und noch so viele gelehrte
Bücher können nichts daran
ändern, dass die Aktivitäten unserer
Linken nichts mit der Wirklichkeit zu tun
hatten. Sie sassen vor ihren Mao- und
Guevara-Porträts und bildeten sich ein, sie
seien politisch tätig. Wenn sie diese
Sturm-und-Drang-Phase glücklich hinter sich
gebracht und sich die Hörner abgestossen
haben, treten sie dann als Funktionäre in
den Dienst des königlichen Palastes und
werden bei den Regimeparteien zu
"Volksführern".
Ich blieb drei Tage lang bei ihnen. Sie
brachten mir bei, wie man neue Jeans so
behandelte, dass sie alt und gebraucht aussahen.
Dieses Kunststück erreichte man mit Hilfe
von Bleichungsmitteln, Metallbürsten und
Wasser. Sie waren steinreich, wollten aber gerne
wie arme Schlucker wirken. Sie gehörten zu
jenem vielleicht einem Prozent der Jugendlichen,
denen alle Ausbildungsmöglichkeiten
offenstanden, und bereiteten sich auf ihre
Aufgabe als revolutionäre Führer
über uns elenden Reaktionäre vor. Auf
diese Weise bleibt die Macht nach der
"Revolution" bei den gleichen Familien und
gesellschaftlichen Schichten.
Ich verliess sie, um nicht die Aufmerksamkeit
der Nachbarn auf mich zu ziehen. Doch mein
kurzer Aufenhtalt bei ihnen eröffnete mir
einen Einblick in die Art und Weise, wie der
Marxismus von konservativen Kräften
ausgenutzt wird, um die Macht unter anderen
Parolen und unter neuer Flagge zu behalten.
Was dann geschah, darf und will ich nicht
enthüllen. Ich wohnte an vielen
verschiedenen, über das ganze Land
verstreuten Orten, und zwar in sehr schweren
Verhältnissen. Auch heute gilt es jene zu
schützen, die mir damals beigestanden sind,
so dass ich keine Einzelheiten verraten darf.
Sobald die Umstände es zulassen, werde ich
die Ereignisse jener Zeit schriftlich
niederlegen.
Bis März 1973 beteiligte ich mich an den
Vorbereitungen für verschiedene
Guerillaaktionen im Atlasgebirge. Leute vom
radikalen Flügel der UNFP hatten sich in
kleinen Partisanengruppen zusammen- gefunden,
die Überfälle auf die Stützpunkte
der Sicherheitskräfte auf dem Lande
durchführten. Die erste solche Aktion fand
am 3. März 1973 statt, als die
Widerstandskämpfer einige Polizeistationen
im Mittleren Atlasgebirge angriffen. Das
Unternehmen schlug fehl, und 20 Partisanen kamen
dabei um. Ich selbst war als ideologischer
Berater und Instrukteur in Guerrillataktik
tätig. Ich misstraute den UNFP-
Führern, weil diese Marxisten waren und
leicht von der Polizei infiltriert werden
konnten. Für mich war jedes
marxistisch-leninistische Regime in Marokko
vollkommen unakzeptabel.
Unsere völkische Ideologie, Kultur und
Religion ist der Islam. Dieser
gewährleistet unsere kulturelle und
politische Selbständigkeit. Der Marxismus
ist ein Teil der europäischen
jüdisch-christlichen Denkweise und
Ziviliation. Bei uns führt er nur zu
Tragödien, wie etwa die tragischen
Beispiele Afghanistans und des Südjemen
beweisen. Dort können sich die
einheimischen Marxistenregime nur durch
ausländische Mililtärhilfe an der
Macht halten. Dass die erwähnten
Guerrillaaktionen scheiterten, lag daran, dass
die bewaffneten Widerstandsgruppierungen von
"Marxisten" infiltriert waren, bei denen es sich
in Tat und Wahrheit um Polizeispitzel
handelte.
Ich verbarg mich einige Zeit in den Bergen.
Die Lage für mich wurde immer
gefährlicher, weil mehrere andere
Partisanen in Gefangenschaft geraten waren.
Zudem wurden die politischen Gegensätze
zwischen meinen Kampfgefährten und mir
selbst immer schroffer. Der Marxismus war nicht
zu Lenins Zeiten in die arabische Welt
eingedrungen, sondern erst sehr viel
später, zu einem Zeitpunkt, wo die UdSSR
imperialistische Expansionspolitik betrieb. Er
hatte also recht eigentlich kolonialen
Charakter. Seine Apostel waren Missionaren mit
ihren Bibeln vergleichbar.
Die Marxisten analysieren nicht etwa die
tatsächlichen Probleme auf
wissenschaftliche Weise, um Lösungen
dafür zu erarbeiten, sondern sie kommen mit
fertigen Lösungen und suchen dann
angestrengt nach den dazu passenden Problemen.
Im Südjemen, in Oman und in der
marokkanischen Sahara wittern sie einen
"Klassenkampf", obschon dort nur arme Beduinen
leben.
Unsere Marxisten sind dumme Papageien. Es mag
ja sein, dass der Marxismus in Europa einen
organischen Bestandteil der jüdisch-
christlichen Kultur und Philosophie darstellt,
doch in der arabischen und ganz allgemein der
islamischen Welt bilden die Marxisten lediglich
einen Teil der kolonialen Invasionsarmee; sie
sind, bildlich gesprochen, Soldaten und
Missionare. Ohne sich dessen gewahr zu werden,
sind sie Werkzeuge eines kulturellen,
intellektuellen und philosophischen
Imperialismus.
Ich träumte davon, nach Schweden zu
fliehen. Nie gingen mir die Worte des
Polizeichefs aus dem Sinn, der mich und andere
Lehrer wegfuhr, als wir die Auszahlung unserer
Löhne verlangten. "Meine Herren, bilden Sie
sich denn eigentlich ein, wir seien hier in
Schweden?" hatte er gehöhnt. Seit jenem
Tage dachte ich an Schweden; ich hatte einiges
über das Land gelesen und wollte nun
dorthin flüchten und um politisches Asyl
bitten, bis sich die Zeiten besserten. Wenn man
mich gefangennahm, würde ich auch meine
Freunde mit mir in den Abgrund reissen, die
immer noch in der Armee dienten; ich würde
sie unter der Folter verraten. Auf Wegen, die
ich nicht enthüllen darf, glückte es
mir, via Paris nach Schweden zu gelangen.
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