Ein Leben für Freiheit
Eine Selbstbiographie

Ahmed Rami

 
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Die ersten Jugendjahre

 

Als ich das Licht der Welt erblickte, waren meine Eltern Bauern, doch reichte der Ackerbau nicht aus, um der neuen Generation eine würdige Existenz zu bieten, so dass mein Vater, M'barek ben Moussa ebenfalls nach Casablanca zog. Ich habe keine Ahnung, in welchem Jahr das war, und ich weiss nicht einmal, ob er zu Hause war, als ich geboren wurde.

Mein Geburtsort war das Dorf Douar Ait-Mar, in der Gegend des Tahalastammes, unweit von Tafraoute im Anti-Atlas. Mein Geburtsjahr mag 1946 gewesen sein, aber dies ist nicht sicher. Würde ich meine Mutter Fatima heute nach dem Datum fragen, so wüsste sie kaum zu antworten. Sie ist Analphabetin und hat nie im Leben einen Kalender besessen. Das einzige, was zählt, ist die Jahreszeit; wichtig ist, ob es Winter oder Sommer ist. Jede Jahreszeit kehrt wieder, sie braucht nicht datiert zu werden. Für meine Mutter ist die Zeit ein Kreislauf, kein Fortschreiten. Will sie einen Zeitpunkt näher bestimmen, so bezieht sie sich auf ein bedeutsames Ereignis, das im Gedächtnis der Menschen haften geblieben ist, eine Seuche beispielsweise oder eine Naturkatastrophe.

Dass meine Mutter weder lesen noch schreiben kann, ist in Marokko durchaus nichts Aussergewöhnliches. Sie hat ihr Heimatgebiet nie im Leben verlassen; für sie endet die Welt am Horizont des nächsten Berges. Ihre Welt umfasst das Dorf, das Nachbardorf und den Stamm. Sobald ich kräftig genug dazu war, musste ich meiner Mutter bei der Feldarbeit helfen. Ich hatte einen älteren Bruder, der mit meinem Vater nach Casablanca ziehen durfte. Dass die Menschen in meinem Dorf so viele Kinder wollten, lag wohl vor allem daran, dass sie möglichst viele Arbeitskräfte für die Feldarbeit brauchten. Kinder waren ihre Altersversicherung.

Meine Mutter hat acht Kinder zur Welt gebracht. Zuerst wurde Mohamed geboren, dann ein Mädchen namens Khlija. Sie starb an irgendeiner Krankheit. Es gab im Dorf kein Krankenhaus, keinen Arzt und keine Krankenschwester. So etwas gab es auch in Tafraoute nicht, und überhaupt nirgends in der ganzen Umgebung.

Als drittes Kind kam ich zur Welt. Es folgten Abdallah, Lahcen, Ali und nach diesem noch zwei Kinder, Brahim und Mustafa, die beide einer Krankheit erlagen. Abdallah, Lahcen und Ali leben heute in Casablanca. Mohamed ist ca. im Jahre 1977 gestorben. Als ich ungefähr vier Lenze zählte, schickte meine Mutter mich auf eine Koranschule, wo ich die Sprache der heiligen Schrift, Arabisch, lesen und schreiben lernen sollte. In jedem Dorf gab es eine Moschee und einen "Fqih", einen Religionslehrer, der genug wusste, um die Grundlagen des Lesens und Schreibens zu vermitteln. Ihm oblag auch die Verantwortung für die Moschee; diese ist nämlich nicht nur ein Ort des Gebets, sondern dient auch als Schule für Kinder, welche dort den Koran auswendiglernen sowie lesen und schreiben lernen.

Unser Fqih, Sidi Souleiman, stammte nicht aus dem Dorf, sondern aus einer ganz anderen Gegend, denn einen Menschen, der so hochgebildet war, dass er das Arabische in Wort und Schrift einigermassen beherrschte, gab es bei uns nicht. Er schrieb die Briefe, welche die Einwohner unseres Dorfes absenden wollten - etwa den, welchen meine Mutter an den in Casablanca weilenden Vater schickte - und las ihnen auch die Briefe vor, die sie ihrerseits erhielten.

Er war es auch, der den Koran und die islamische Religion vermittelte und deutete. Der Islam kennt keinen Priesterstand. Das Wort Fqih bezeichnet schlicht und einfach den "Gelehrten, der als Lehrer und Imam in der Moschee wirkt. Unter einem Imam versteht man den Leiter des Gebets. Als solcher kann jeder beliebige Muslim amten. Jeder, der eine Ausbildung durchlaufen hat, ist ein Fqih.

Im Dorf lebten rund 40 Familien. Jeden Tag ass der gelehrte Mann bei einer davon; sie sorgten abwechselnd für sein Essen. Er betrat ein Haus nur, wenn der Mann daheim war; ansonsten bereitete ihm die Frau einen Teller Essen zu, der ihm dann überreicht wurde.

Eines schönen Tages sandte mich meine Mutter also wie erwähnt auf zu ihm. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich dort benahm. Ich ging einfach auf den Lehrer zu und sagte ihm, ich sei ein neuer Schüler. Er blickte mich böse an. "Hau ab", sagte er, "du gehörst aufs Feld. Du bist nicht dafür geschaffen, lesen und schreiben zu lernen und den heiligen Koran zu studieren." 15 Später erfuhr ich, dass er so wütend war, weil ich ihm kein Geschenk mitgebracht hatte. Ich selbst wurde zornig und traurig zugleich und heckte, wie mir meine Mutter später erzählt hat, einen Racheplan aus. Als wieder der Tag gekommen war, wo meine Familie ihm sein Essen besorgen musste, schickte meine Mutter mich mit einem Paket zur Moschee.

Dort ging es so zu, dass man an die Tür klopfte, worauf er die Hand ausstreckte und den Teller in Empfang nahm, ohne einen Blick nach aussen zu werfen, denn im allgemeinen wurde ihm das Essen von Frauen gebracht. Auf dem Weg zur Moschee hatte ich dass Essen auf dem Teller weggeschüttet und durch Kot ersetzt. Der Lehrer platzte förmlich vor Wut und schleuderte mir den Teller nach, während ich eilig das Weite suchte. Dies verursachte im Dorf einen Riesenskandal. Hätte man mich zur Koranschule zugelassen, so hätte ich Freundschaft mit den anderen Kindern geschlossen, doch stattdessen musste ich auf den Feldern arbeiten.

Während meiner Kindheit habe ich so gut wie niemals gespielt, denn ich musste in aller Herrgottsfrühe aufstehen, um das Essen zuzubereiten und die Tiere zu füttern. Damals besassen wir eine Kuh und ein Schaf. So etwas wie ein Spielzeug nannte ich nie mein eigen. Doch, einmal hatte ich eines. Als mein Vater eines Tages in der Nähe unseres Hauses einen Brunnen grub, sah ich, wie er vorging. Er benutzte dazu einen Vorschlaghammer sowie einen Handbohrer, um Löcher auszuheben. Dann stopfte er Schiesspulver und eine Lunte hinein. Als ich einmal allein zu Hause war, tat ich es meinem Vater gleich, doch legte ich das Schiesspulver sowie die Lunte unter einen grossen Stein. Der Knall war im ganzen Dorf zu hören. Soweit ich mich entsinnen kann, war dies das einzige Mal, dass ich gespielt habe.

Das Dorf war sehr arm, aber selbstversorgend. Die Menschen bauten alles an, was sie zum Leben brauchten, und Hunger war unbekannt. Jedermann arbeitete ausserordentlich hart. Das Klima jener Zonen ist ungünstig, und schon zu jener Zeit herrschte Wassermangel.

 

 

Doch so schwer die Leute auch für ihr tägliches Brot schuften mussten, sie waren frei und hatten die Würde sowie den Stolz des unabhängigen Menschen. Bettler und Diebe waren unbekannt, und Kriminalität gab es so gut wie gar nicht. Alle gehörten dem gleichen Stamme an; kein Fremdling hauste im Dorf. Man heiratete einen Partner aus demselben Dorf oder vielleicht aus dem Nachbardorf, doch keinen Fremden.

Das Leben der Dorfbewohner war äusserst stark von der Religion geprägt. Der Islam war alles, was den Menschen zur Verfügung stand, um die grossen Fragen des Lebens zu beantworten. Unterliess es jemand, regelmässig zu beten, so wusste gleich das ganze Dorf davon. Ein solches Versäumnis gilt dort bis zum heutigen Tage als Schande.

Die "säkularisierte" weltliche Macht hatte seit der Ankunft der Franzosen ihren Sitz in Tafraoute, denn dort residierte der Hauptmann, der die Kolonialmacht vertrat. Von meinem Dorf waren es 17 Kilometer nach Tafraoute; dorthin führte durch das Tal ein Pfad, aber eine Strasse gab es noch nicht. Die Luftlinie betrug wohl nicht mehr als fünf Kilometer. Jeden Mittwoch wurde in Tafraoute ein Souk, also ein Markt, abgehalten. Diesen suchten wir allerdings nur selten auf, weil es in Tahala, das nur halb so weit weg lag, einen Sonntagsmarkt gab.

Solche Märkte spielten auch eine bedeutsame soziale Rolle. Man traf sich nicht nur, um Geschäfte abzuschliessen. An diesen Tagen trug man seine besten Kleider, da man ja Menschen aus anderen Gegenden traf. Man plauderte über "Politik", vermittelte Neuigkeiten und erzählte Gerüchte weiter. Auf einem Markt wurde mein Vater 1956 zum öShejk" (Stammes-häuptling) gewählt. Bei uns Berbern ging die Häuptlingswürde keinesfalls automatisch vom Vater auf den Sohn über. Ein neuer Shejk wurde gewählt. Mein Vater hatte gegen die Franzosen gekämpft, und in Casablanca hatte er Interesse für die Politik geschöpft und sich 1953 der Istiqlal, also der Selbständigkeits-partei, angeschlossen. Deshalb verehrten ihn die Menschen im Dorf. Bei der Wahl auf dem Marktentfielen fast alle Stimmen auf ihn, und er wurde Stammeshäuptling (öAmghar" in der Berbersprache). Die Dorfbewohner nannten mich nun "Ben Shejk", Sohn des Scheichs. Auf diesem Wege wurde mein Vater nun auch zum Vertreter der zentralen Macht des Stammes, nachdem Marokko seine Unabhängigkeit erlangt hatte. 17 Wie alle Berberdörfer war auch das unsere von altersher von einer öDjamƒa" gelenkt worden. Unter einer solchen versteht man eine Gruppe von zwölf durch die Dorfbewohner gewählten Männern, welche eine Art Rat bildeten. Sie trafen sich so oft sie konnten und erörterten die Lage im Dorf. Formale Sitzungen gab es nicht; sie fanden sich einfach zusammen und setzten sich irgendwo hin. Grundsätzlich konnte jeder beliebige Mann an diesen Treffen teil-nehmen, und die meisten, die dies taten, waren altehrwürdige Männer.

Das Alter spielte eine wichtige Rolle, denn "die älteren sind weiser als die jüngeren", und man schenkte ihnen grössere Aufmerksamkeit. Da das Dorf so abgelegen war, diskutierte man meist über praktische Fragen, beispielsweise darüber, ob man gemeinsam eine Brücke bauen sollte oder wann man mit der Ernte beginnen wollte. Der Boden, der einem Bauern gehörte, bildete nicht unbedingt ein zusammenhängendes Ganzes; man konnte da ein Stückchen Land besitzen und dort ein Stückchen, und es galt den richtigen Zeitpunkt für Aussaat und Ernte beizeiten festzulegen.

Mein Vater hatte an dem langen Krieg gegen die Franzosen teilgenommen, welche die ländlichen Zonen Marokkos unter ihre Herrschaft bringen wollten. Dieser Krieg zog sich über 25 Jahre dahin. Erst dann glückte es den Franzosen, die Landgebiete zu unterjochen. Mein Vater war bei der letzten Schlacht bei Ait Abdallah im Jahre 1934 dabei. Damals besiegten uns die Franzosen; anschliessend beuten sie in Tafraoute einen Militärstützpunkt.

Die Enttäuschung unserer Kämpfer war natürlich grenzenlos. Unser ganzer Kampf unterstand islamischen Prinzipien. Er war eine Art öJihad", worunter man die islamische Pflicht zum Kampf gegen die Ungerechtigkeit versteht. "Jihad" heisst Kampf. Im Westen missversteht man den Begriff im allgemeinen. Man meint, es bedeute "heiliger Krieg", doch dieser Erklärung ist zu einfach. Das Wort leitet sich vom Verbum "jahada" (ösich anstrengenö) ab. Jihad ist eine islamische Pflicht. Es ist der Kampf gegen das Böse und das Unrecht, nicht, wie man im Westen wähnt, ein "heiliger Krieg", sondern ein Krieg für die Gerechtigkeit, deren Schutz einem Moslem als religiöse Pflicht obliegt. 18 Das Gerechtigkeitsprinzip ist der Grundpfeiler des Islam. Es verlangt von jedem einzelnen, dass er sich anstrengt. Man unterscheidet zwischen dem "grossen" und dem "kleinen" Jihad. Der grosse Jihad ist der Kampf gegen das Böse in uns selbst. Der kleine Jihad ist der Kampf gegen das Böse ausserhalb von uns, das Böse in der Gesellschaft oder der Welt.

Als die Franzosen unser Land kolonisierten, wurde gegen sie der kleine Jihad ausgerufen. Aber das Böse, das Unrecht triumphierte über uns. Für alle unsere Menschen war dies eine namenlose Enttäuschung, eine Katastrophe ärgster Art. Doch das Volk gab nicht auf, sondern setzte seinen Widerstandskampf fort. Der Islam verlieht ihm Kraft und Stärke wie später den afghanischen Freiheitskämpfern gegen die Sowjets oder heute noch den Palästinensern.

Der Widerstand gegen die Kolonisierung war für uns eine Herzenssache. Der Kolonialismus, dem wir gegenüberstanden, war nur ein Teil des kolonialistischen Systems, das so gut wie die ganze islamische Welt heimsuchte und noch heute in verschiedenen Formen weiterlebt: indirekt beispielsweise in Marokko, direkt in Palästina und im Libanon.

Im Jahre 1936 leitete ein Fqih, also ein religiöser Führer, im Atlas- gebirge mit 1000 Mann einen Angriff gegen eine französische Garnison. Gott wird uns beistehen, sagte er, wir brauchen keine Waffen. Die Franzosen schossen die Angreifer natürlich über den Haufen oder nahmen sie gefangen. Da begriff das Volk, dass man den Eroberern und Kolonialisten nicht mit blossen Händen entgegentreten kann.

Man besass damals lediglich alte Waffen: Messer, Schwerter, eine Handvoll uralter Flinten. Der Gegner verfügte über ein hochmodernes Waffenarsenal. Die westliche Technologie hatte über unsere Rückständigkeit gesiegt, nicht über unseren Glauben oder unsere Ideale. Die ganze Überlegenheit Israels und der westlichen Welt fusst auf dieser technologischen Überlegenheit über die islamische Welt sowie die dritte Welt ganz allgemein.

 

Vor der Franzosenzeit übten die 12 Männer, aus denen sich die Djamƒa zusammensetzte, die gesamte Rechtssprechung im Dorf aus. Im Islam gab es für jede Situation Präzedenzfälle und Regeln. Wenn die Männer einen Entschluss gefasst hatten, ging ihr Bescheid von Mund zu Mund durchs Dorf. Nichts wurde niedergeschrieben. Man konnte da von einer Art direkten Demokratie freier Männer sprechen, welche kennzeichnend für die Berbergesellschaften war.

Solange die Dörfer isoliert waren und keine Zentralmacht existierte, ging das gut. Nachdem die Franzosen Fuss gefasst hatten, durfte sich der Dorfrat, die Djamƒa, nur noch mit rein praktischen Alltagsfragen befassen, während die tatsächliche Macht bei den Franzosen lag, die dann auch alle wichtigen juristischen Fragen selbst entschieden. Dies rief Unwillen bei den Berbern hervor, welche diese Einmischung als Widerspruch zu den islamischen Gesetzen auffassten. Nun entschieden die Kolonialisten über zivil- und familienrechtliche Probleme, die für die Dorfbewohner von allergrösster Wichtigkeit waren und deren Hintergrund die Franzosen nicht kannten.

Die Menschen im Dorf wandten sich auch dagegen, dass die Franzosen Berber und Araber gegeneinander auszuspielen suchten. In Marokko besteht wohl ein Gegensatz zwischen Land- und Stadtbevölkerung, doch keinesfalls zwischen Berbern und Arabern. Für den Durch- schnittsmarokkaner sind "Araber" und "Moslem" Synonyme. Dass man Araber sein kann, ohne zugleich Moslem zu sein, ist für ihn unverständlich. Man darf den Koran nicht übersetzen, und man darf seine Gebete nicht in der Berbersprache verrichten. Das Arabische ist die Sprache des Koran und folglich heilig. Wenn meine Mutter auf dem Boden ein Papier mit arabischer Schrift sieht, regt sie sich furchtbar auf, weil eine heilige Sprache nicht in den Schmutz gezogen werden darf. Für sie ist also "Araber" genau dasselbe wie "Moslem".

So etwas wie instututionalisierte Korruption gab es in unserer Gegend vor der Kolonialzeit nicht. Natürlich bestanden Ungerechtigkeiten, aber solche beseitigten wir selbst, und wer einem anderen ein Unrecht zufügte, konnte schlimmstenfalls dafür getötet werden. Hier lag das Prinzip der Blutrache begründet: Hast du einen Menschen umgebracht, so musst du im allgemeinen mit deinem eigenen Leben dafür bezahlen.

Die Besatzerbehörden arbeitete mit Verrätern zusammen, die schalten und walten konnten, wie es ihnen beliebte, ohne dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen wurden. Ungerechtigkeit und Korruption wurden von neuen Gesetzen, vom Staat und der Polizei gedeckt. Vor der Kolonisierung herrschte Ordnung, die dann durch eine Art organisierte Anarchie abgelöst wurde. Gewisse Leute konnten morden, sich der Korruption hingeben, ihre Macht schamlos missbrauchen und sich aufführen, wie sie wollten, ohne dafür eine Bestrafung zu riskieren. Sie hatten das "Gesetz" und die Staatsmacht auf ihrer Seite.

Früher waren wir alle ungefähr gleich arm, doch nun konnten einige durch Korruption oder durch Handel in den Städten zu Reichtum gelangen, weshalb die soziale Kluft zwischen arm und reich wuchs. Als Beispiel kann man einen Neureichen namens Bouhdar anführen, der zu Beginn der fünfziger Jahre in Tahala lebte. Er häufte durch Spekulation Unsummen von Geld an, hatte seine Finger in allen möglichen Bestechungsaffären und schenkte dem französischen Militär- kommandanten ein schickes Auto. Als Gegenleistung bekam er die Erlaubnis, unter dem Schutz der französischen Militärmacht zu tun, wonach ihm der Sinn stand. Er war also zum Kollaborateur geworden.

Zum Zeitpunkt, wo ich dieses Buch schreibe, ist dieser Mann noch am Leben. Er treibt es immer noch wie früher, nur verrichtet er seine Dienste nun für die neokolonialistischen Behörden des "neuen", formal selbständigen Marokko. Ehe die Franzosen abzogen, traten sie die Macht an die Verräterclique ab, die das Land heutzutage regiert. Solchen Verrätern wie dem erwähnten Boudhar galt unser Hass. Nachdem die Franzosen den Krieg gewonnen hatten, bekamen wir ihre Beamten nicht allzu oft zu Gesicht.

In unserer Gegend lebte nur ein einziger französischer Offizier, der Militärkommandant der Besatzerarmee in Tafraoute, der zugleich Gouverneur und Führer eines marokkanischen Söldnerbataillons war. Doch nach dem verlorenen fünfundzwangzigjährigen Krieg war das Volk müde geworden. Pessimismus, Verzagtheit und Verzweiflung nahmen überhand, und die Verräter machten sich diese Stimmung zunutze. Der von den Kolonialisten protegierte Sultan wurde vom Volk als Verräter betrachtet. 21 Die Franzosen wussten natürlich sehr wohl, dass unsere Bergzonen isoliert und selbständig gewesen waren und mit dem korrupten Rest des Landes nicht allzu viel zu tun hatten. Diese Situation wollten sie nun für ihre eigenen Interessen ausnutzen, indem sie die Berber an der französischen kulturellen Invasion teilhaben liessen. Die Franzosen entschieden, "richtige" französische Schulen zu errichten und riefen für alle Kinder die allgemeine Schulpflicht aus.

Dahinter stand die Absicht, den Berberkindern Französisch beizubringen. Auf diese Art sollte ein Riss zwischen französisch- sprechenden Berbern auf dem Land und arabischsprechenden Arabern in der Stadt entstehen, aber auch eine Kluft zwischen den Berbern und ihren mit der französischen Sprache aufwachsenden Kindern. Während meiner Jugendzeit gab es bei uns im Dorf ausser dem Fqih niemanden, der Arabisch konnte.

Als die Franzosen irgendwann anno 1951 oder 1952 in Tafraoute eine Schule bauten, erregte dies heillosen Schrecken. In Windeseile verbreitete sich das Gerücht, die Franzosen wollten die Kinder stehlen. Damit gemeint war natürlich, dass sie sie ihren Eltern kulturell entfremden wollten, doch manche erzählten, sie wollten die Kinder den Eltern buchstäblich wegnehmen.

Eines Nachts machte sich meine Mutter deshalb heimlich mit mir auf den Weg. Ich erinnere mich noch daran, dass sie mich auf ihre Schultern setzte und dass ihr Nackenhaar mich an der Innenseite meiner Schenkel kitzelte (die Frauen pflegten sich den Nacken zu rasieren).

Im Schutze der Dunkelheit brachte meine Mutter mich in ein Dorf, das acht Kilometer von unserem Heimatort entfernt war. Von dort fuhr ein Bus nach Casablanca. Sie schickte mich mit einem Freund meines Vaters auf den Weg, denn am nächsten Tag sollte der Unterricht in der französischen Schule anfangen.

Ich war keinesfalls das einzige Kind, das auf diese Weise aus dem Dorf geschmuggelt wurde. In vielen Nachbardörfern geschah hnliches, da die Leute dort ihre Kinder auch nicht auf die Franzosenschule schicken wollten. 22 So verschlug es mich das erste Mal nach Casablanca. Statt die Schule zu besuchen, musste ich als kleines Kind bei meinem Vater in einem Geschäft arbeiten. Das war im Jahre 1952. Ich zählte damals fünf oder sechs Jahre.

Als die ersten französischen Soldaten nach Marokko entsandt wurden, um dort ein "Protektorat" zu gründen, stiegen sie beim Fischerdörfchen Anfa an der marokkanischen Atlantikküste an Land. Sechzig Jahre später war das Fischerdörfchen zur viertgrössten Stadt des afrikanischen Kontinents geworden. 1968 wohnte jeder zehnte Marokkaner in Casablanca, einer rasch wachsenden Metropole, welche, wie so viele andere Grossstädte der Dritten Welt, die Landbevölkerung förmlich einsaugt.

Casablanca ist also eine junge Stadt und gleicht keiner anderen in Marokko, sondern weist einen ganz eigenen Charakter auf. Das Zentrum, wo die grossen Hotels und Geschäfte liegen, könnte irgendeiner anderen Stadt im Mittelmeerraum gehören; es gibt dort wenig, was echt marokkanisch ist. Das Stadtbild wird von zehn- bis fünfzehnstöckigen Häuern geprägt, die zur Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut wurden.

Heutzutage flankieren die Häuser die breite Strasse der Königlichen Streitkräfte, die bis zum Platz Mohammeds des Fünften reichen (früher hiess er Place de France). Auf der anderen Seite des grossen Markts erstreckt sich das alte Medina (was auf arabisch "Stadt" heisst). Als die Franzosen kamen, lebten dort ca. 20'000 Menschen. Heute, 70 Jahre später, drängen sich rund 3 Millionen Einwohner auf ungefähr der gleichen Fläche zusammen.

Anfänglich expandierte die Stadt von der Place de France aus in alle Richtungen. Die Europäer wohnten im Zentrum. Ein Disktrikt, Maƒrif, war zur Kolonialzeit hauptsächlich von Spaniern bewohnt. Um 1930 erhielten die Marokkaner die Erlaubnis, in ein neu erbautes öeuropäisches" Gebiet zu ziehen, Neumedina, dessen Einwohnerzahl bis 1960 auf l85'000 zunahm.

 

 

Die meisten Bewohner dieser neuen Stadtteile rekrutierten sich aus der marokkanischen Mittelklasse, die fast jeden Marokkaner umfasst, welcher für seine Arbeit Lohn bezieht: Arbeiter, Staatsbeamte, Büroangestellte, Lehrer und Ladenbesitzer. In diesen Quartieren schossen die nationalistischen Bewegungen der Städte aus dem Boden und warben ihre ersten Anhänger.

Vielleicht meinten die Franzosen, als sie Neumedina aus dem Boden stampften, sie könnten die Eingeborenen so von den im Zentrum lebenden Europäern isolieren, doch dieses Kalkül schlug fehl. Als diese Stadtteile zur Hochburg der Stadtguerrilla wurden, bereitete es den französischen Behörden allergrösste Mühe, in die Stützpunkte der Widerstandskämpfer einzudringen.

Immer mehr Kopfzerbrechen verursachte den Franzosen auch das rasche, illegale und unkontrollierbare Wachstum der Slums an den Stadträndern. Solche Elendsquartiere begannen während der zwanziger Jahre aus dem Boden zu schiessen, und während der dreissiger Jahre wucherten sie krebsartig aus. Auf französisch nannte man sie öbidonvilles", was von "bidon", "Blechbüchse", kommt. Das wichtigste Baumaterial waren nämlich Konservendosen, die man plattdrückte und dann zur Herstellung von Wänden und Dächern benutzte. Die beiden grössten Slums von Casablanca sind die CarriÜres Centrales (1959 59'000 Einwohner) und Ben M'sik (1959 97'000 Einwohner).

Andere Elendsviertel schossen überall dort wie Pilze aus dem Boden, wo ein Grundbesitzer bereit war, Land zu vermieten, oder wo die neuen Stadtbewohner unbebautes Terrain vorfanden. Die kommunalen Behörden haben diese Stadtteile niemals juristisch anerkannt, und kein Besitzer einer Blechhütte wagt deshalb, diese in eine ordentliche, permanente Wohnung umzugestalten - aus Angst davor, dass die Behörden eines Tages Bulldozer auffahren und das ganze Slumviertel niederwalzen lassen könnten. Ungefähr 30% aller Einwohner von Casablanca hausen in solchen "bidonvilles". Diese Ghettos werden eines Tages vielleicht die ganze Stadt verschlingen. Hier existiert eine Subkultur, in welcher die Menschen schon seit Jahrzehnten in weitgehender Isolation von der Stadt und deren Bewohnern leben.

 

Die Einwohner dieser Slums sind den Behörden gegenüber feindlich gesinnt, aber wohl doch nicht bereit, sich zu verteidigen, weil sie so unerhört verwundbar sind und so viel zu verlieren haben. Die Stadt ist ihrer Meinung nach immer noch besser als das Dorf, egal ob es nun Arbeit gibt oder nicht. Sie wollen um keinen Preis in ihre verarmten Heimatorte zurückkehren.

So gut wie jede Sphäre ihres Lebens untersteht der Kontrolle der Behörden: die Wohnerlaubnis im Ghetto, die Arbeitsgenehmigung, die Identitätskarte, die Erlaubnis, ihre Kinder zur Schule zu schicken, usw. Sie müssen ungemein vorsichtig sein, um das wenige, was die Stadt ihnen bietet, nicht aufs Spiel zu setzen.

Der Überlebenskampf ist in diesen Elendsquartieren dermassen mörderisch, dass es für "politischen Extremismus" keine Basis gibt. Die brotlosen Menschen wagen nur selten, Sympathie für radikale Lösungen zu äussern, besonders wenn es sich bei diesen um importierte, fremdländische Ideen handelt. Sie können es sich nicht leisten, Revolutionäre zu sein. Andererseits kann es in diesen öbidonvilles" zu Explosionen von Hass und Terror kommen, wenn die Brotlosen eines Tages gar nichts mehr zu verlieren haben. So war es 1965 in Casablanca.

"Der Mensch lebt nicht vom Brot allein", sagt ein Protagonist in einem der (auf französisch geschriebenen) Romane des marokkanischen Schriftstellers Driss Chraibis. Er konnte sich diese Formulierung leisten. Es war ja nur eine bildhafte Wendung, doch er konnte sie sich erlauben. Die Sozialisten konnten sich den Luxus gönnen, mehr als Brot zu benötigen. Hier, in den Elendsvierteln, gab es kein Brot. Nicht einmal einige Krumen.

Hier gab es nichts anderes als entwurzelte, unterdrückte Menschen, die mit etwas Glück überlebten, aber das war schon alles. Und die Kinder, diese Scharen von Kindern, die schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen waren, nackt, mit vom Hunger aufgedunsten Bäuchen und riesengrossen Augen, die im Unrat nach etwas Essbarem wühlten. Fanden sie einige Brotkrumen, so war dies eine Gabe Gottes. Anstelle solcher fanden sie politische Flugblätter.

25 Sie brachten Trachome und Staphylokokken mit nach Hause und legten jene Gottergebenheit an den Tag, welche die Ideologie der Erwachsenen ihnen eingeimpft hatte. In diesen Quartieren haben die Kinder, und jene, die auf die Heimkehr der Kinder warten, nur ein einziges Ziel: eines Tages sagen zu können, sie hätten genug Brot zum Leben gehabt.

Wenn man kein Brot fand, so fand man vielleicht Abfall, für den die Gesellschaft keine Verwendung gehabt hatte: rostige Konservendosen und alte, verrottete Papierschachteln. Aus den Papierschachteln wurden Wände und aus flachgedrückten Dosen Dächer. Aber alle diese lebenden Toten warteten auf eine revolutionäre Ideologie, welche sie in Krieger verwandeln würde. Sie sassen vor ihren elenden Schuppen, sahen die Sonne im Osten auf- und im Westen niedergehen und hörten das Geplärr aus dem Radio, das sie mit Mystizismus und Statistik, Produktionsnormen, Hymnen und allerlei Reklame für Waren überschütteten, die für sie so unerreichbar waren wie die Sonne.

Der Widerstand gegen den Kolonialismus wurde auf dem Land an allen Fronten geführt: politisch, kulturell und auch mit der Waffe. Die Nationalisten in den Städten verbreiteten ihre Ideen, gründeten Parteien, Zeitungen, Gewerkschaften und betrieben ideologische Propaganda. Der Widerstand wies hier "moderne", bürgerliche Formen auf und war von westlicher Denkweise beeinflusst. 1934 legten die Souassa im Atlasgebirge ihre Waffen nieder, um den Widerstand in anderer Form weiterzuführen, und viele beteiligten sich am ersten grossen Industriestreik von 1936. Hauptaktionsbasis für die Souassa war nun Casablanca, eine Stadt, die fast vollständig von Migranten aufgebaut war, unter denen die Berber vom Hohen Atlas und Antiatlas zahlreich vertreten waren. Und da Casablanca das kommerzielle und industrielle Zentrum des Landes war, galt die dortige politische Entwicklung als richtungsweisend für die Marokkos in seiner Gesamtheit.

Meine Mutter setzte mich also in den Bus nach Casablanca, wo mein Vater arbeitete. Nach einiger Zeit kehrte mein Vater nach Tafraoute heim, doch ich blieb zurück und arbeitete in verschiedenen Lebens- mittelläden für allerlei Leute, die mein Vater nicht kannte.

Ich war fünf oder sechs Jahre alt, und sie behandelten mich wie einen Sklaven. Um vier Uhr morgens wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Ich musste den Laden aufräumen und verteilte dann Zeitungen oder Milch an Leute, die in den vornehmsten Stadtteilen wohnten. Ich musste Dinge aufheben, die schwerer waren als ich. Eine Zeitlang war ich in einem Laden angestellt, der Chemikalien zur Textilienfärbung verkaufte. Vom Einatmen der Chemikalien wurde ich an der Luftröhre und der Lunge krank. Da wurde ich entlassen. Ich verdiente so gut wie nichts und arbeitete einzig und allein fürs Essen.

Als Kind wurde ich grausam behandelt. Vor allem Berberkaufleute, bisweilen sogar meine eigenen Stammesgenossen, nutzten mich aufs schlimmste aus, und ich musste Tag und Nacht wie ein Sklave schuften. Ich arbeitete im Laden und wohnte zugleich dort. Mein Schlafplatz lag unter dem Ladentisch. 1956 kam dann die "Selbständigkeit". Meine Eltern hielten sich in Tafraoute auf, während ich in Casablanca wohnte, bei meinem Bruder Mohamed, der schon ein Teenager war und ein kleines Geschäft eröffnet hatte. Doch nach ein paar Monaten fuhr er gleichfalls nach Tafraoute zurück, und ich musste bei anderen Menschen arbeiten.

Meine letzte Arbeit als Kind war bei einer jüdischen Familie, die in Casablanca einen Lebensmittelladen besass und sich auf die Ausreise nach Israel oder Kanada vorbereitete. Sie schickten eine Tochter nach Israel und einen Sohn nach Kanada, um die Lage zu sondieren. Bei ihnen entdeckte ich, wie hasserfüllt und rassistisch Juden gegenüber Moslems und Christen sind. Ich durfte nicht am selben Tisch wie sie essen. Sie betrachteten Nichtjuden nicht als Menschen.

Zu jener Zeit setzte ich mir in den Kopf, ich müsse zur Schule gehen und etwas lernen, und ich bat einen Vetter, mich ins Dorf heimzuführen. Mein Vater wurde sehr wütend. Er wollte unbedingt, dass ich als "Geschäftsmann" Karriere machte wie alle anderen aus unserer Gegend. Der Weg zu einer solchen Karriere lag darin, dass ich bereits als Kind in einem Geschäft arbeitete. "Du bist mir ein komischer Vogel", schimpfte er. Doch ich wollte um jeden Preis zur Schule, obgleich er beschloss, dass ich im Dorf oder in der Stadt arbeiten müsse und meinen Fuss nie in ein Klassenzimmer setzen dürfe.

Ohne meinen Vater um Erlaubnis zu bitten, ging ich dann rund 15 Kilometer zu Fuss nach Tafraoute und suchte den Gouverneur auf, den Kaiden, welcher der Verwaltungschef des Bezirks Tafraoute war. Sein Name war Hadj Ahmed Ougdourt. Er galt in ganz Marokko als Unikum. Hadj Ahmed Ougdourt hatte über 80'000 Menschen unter sich; mein Vater war als Schejk gleichfalls sein Untergebener. Zu diesem Mann ging ich also und sagte ihm, ich wolle zur Schule gehen, doch mein Vater sei dagegen.

Hadj Ahmed Ougdourt war beinahe Analphabet. Doch über sein Leben kursierten die wildesten Gerüchte, und sie waren märchenhaft. Während der Kolonialzeit hatte er sich so unbotmässig gezeigt, dass man ihn in Tafraoute hinter Schloss und Riegel setzte. Er kam eigentlich vom Stamm der Issy, der drei Meilen von Tafraoute entfernt lebte, und hatte früher ein kleines Geschäft in Rabat besessen. Im Gefängnis verhielt er sich stolz und hochmütig gegenüber dem französischen Hauptmann, dem "Qbtann", wie die Menschen diesen nannten (er war der Militärgouverneur in Tafraoute). Man erzählte, Hadj Ahmed Ougdourt habe als Gefangener zum Hauptmann gesagt: öWenn mein Land frei ist, werde ich hier an deiner Stelle der Chef!"

Damals wagte noch kaum einer zu hoffen, dass Marokko irgendwann einmal selbständig sein würde. Das Volk war so entmutigt und die Franzosen militärisch dermassen stark, dass nur wenige im innersten Herzen an einen Sieg über die Unterdrücker glaubte, aber Hadj Ahmed Ougdourt gehörte zu diesen wenigen. Seine einzige Ideologie und Stärke war der Glaube an den Koran. Wer keine höhere Macht anerkennt, lebt oft nach dem Gesetz des Dschungels. Doch für einen frommen Muselmanen muss Stärke auf Gerechtigkeit gründen und die Gerechtigkeit stark sein, damit man eine menschlichere Welt schaffen kann.

Als die Selbständigkeit dann tatsächlich gekommen war, liess man diesen Mann frei, und der neue marokkanische Gouverneur ernannte ihn zum Kaiden von Tafraoute. Er war kein Konformist, seinem Wesen nach ein Original, ein Widersacher jeder Ungerechtigkeit und ein scharfer Gegner aller Korruption.

 

Er mobilisierte flugs die Bevölkerung, um in jedem Dorf eine Schule zu errichten und Strassen zwischen den Dörfern zu bauen, und er liess Tausende von Olivenbäumen anpflanzen. Sogar das erste kooperative Unternehmen der Gegend ging auf seine Initiative zurück. Er achtete darauf, dass all dies ohne Befehle von oben zustande kam. Alle diese segensreichen Dinge entstanden dank seiner Initiative.

Die "Selbständigkeit" erwies sich als Betrug der Franzosen an den Marokkanern. Sie übergaben die Macht dem Sultan, zogen aber hinter die Kulissen weiterhin die Fäden und stellten ihm in Frankreich ausgebildete Offiziere zur Verfügung, die auch in der französischen Armee gedient hatten - Männer wie Oufkir und Dlimi beispielsweise mitsamt einer ganzen Armee, welche direkt aus der französischen hervorgegangen war. Die Polizei rekrutierte sich hauptsächlich aus Verrätern und Kollaborateuren, welche für die französischen Kolonialisten Handlangerdienste verrichtet hatten und sich nun auf wichtigen Posten einnisteten.

Die vielleicht einzige Ausnahme in ganz Marokko war der Kaid von Tafraoute, ein erklärter Widersacher der Kolonialherrschaft. Von ihm hiess es, er tanze zu einer anderen Musik als zu der des Sultans. Er zeigte uns, wie es zugegangen wäre, hätten wir eine echte Selbständigkeit erworben. Er hatte die Gabe, das Volk spontan zu mobilisieren und konnte die Leute dazu überreden, sich freiwillig zum Bau von Schulen oder Strassen zu melden, ohne dass es dazu einer Verwaltung oder eines Budgets bedurft hätte. War man mit dem Bauen fertig, schickte er einen Brief ans Erziehungsministerium in Rabat und teilte diesem mit, in der und der Ortschaft gebe es nun eine Schule und sogar Lehrer.

Der Kaid erweckte mit seinem eigenmächtigen Vorgehen Anstoss und Unruhe, und zwar sowohl bei den provinziellen Behörden in Agadir als auch bei den zentralen in Rabat. Er beging den Fehler, das Wort öSelbständigkeit" wörtlich zu nehmen. Er errichtete auch ein grosses Heim für elternlose und arme Kinder und liess sogar eine Schule für jene Kinder einrichten, die nicht auf die staatlichen Schulen gehen konnten. Dort meldeten sich 300 Schüler.

Ich war eines der Kinder, welche dank jenem Heim und dank der von Hadj Ahmed gebauten Schule zum Unterricht gehen konnten. Als Kind sah ich in ihm ein Vorbild und einen Helden. Er besass ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl und Sinn für Demokratie und Menschenrechte, nicht nur in seinen Worten, sondern auch in seinen Taten.

In Tafraoute gründete Hajd Ahmed ausserdem eine Kooperative, eine Fabrik, wo Dutzende von Frauen Arbeit fanden und wo man Teppiche herstellte. So etwas hatte es in unserer Gegend noch nicht gegeben. Auch eine Bibliothek war dort früher unbekannt, doch er sorgte dafür, dass wir eine bekamen. Er liess sogar die ersten "ffentlichen Toiletten im Zentrum von Tafraoute bauen, auf dem Marktplatz Souk Larbƒa. Die Leute dort hatten nie im Leben so etwas wie moderne Toiletten zu Gesicht bekommen. Sie verrichteten ihre Bedürfnisse irgendwo im Freien, aber nun strömten sie auf die funkelnagelneuen Toiletten.

Es war Mittwoch und Markttag. Bei der Einweihung der Bedürfnis- anstalt hielt der Kaid eine Rede. Nach kurzer Zeit merkte man, dass die Leute ihre Bedürfnisse überall auf dem Boden verrichteten, nur nicht über den Löchern, die eigens zu diesem Zwecke angebracht waren. Deswegen liess der Kaid die Menge am nächsten Markttag abermals versammeln und hielt wiederum eine Ansprache. Als tiefreligiöser Mensch begann er seine Ausführungen wie üblich mit einer Lobpreisung Gottes. Dann fuhr er fort: "Warum setzt ihr eure Löcher nicht auf die Löcher der Toiletten?" Wütend fuhr er fort: "Möge Gott euch den rechten Weg weisen!" und ging seines Weges.

Als Verantwortlichen der neuen Bibliothek im Zentrum von Tafraoute ernannte der Kaid einen Fqih, der in den fünfzigern stand. Dieser hatte nie im Leben ein anderes Buch gelesen als den Koran. Sein Name lautete Sidi Mahfoud. Als er in der Bibliothek andere, neue Bücher zu lesen bekam, wurde sein zuvor fester Glaube dadurch arg erschüttert. Er war unfähig, auf die vielen heiklen Fragen zu antworten, welche die Leser ihm in der Bibliothek stellten. Die dort ausliegenden Zeitungen kündeten von den zum Mond gesandten russischen Satelliten und von Gagarins Raumfahrt. Das Ganze begann Sidi Mahfous' intellektuelles Vermögen zu überschreiten. Nach ein paar Monaten erlitt er einen seelischen Kollaps. 30 An einem Markttag versammelte er mehrere hundert Personen ausserhalb der Bibliothek, um eine "wichtige" Rede zu halten. Er eröffnete seinen staunenden Zuhörern, dass er in der Nacht zuvor "mit Gottes Hilfe" ins All und zum Mond geflogen sei und dort unter anderem den Dämonen (öDjinnö) Jamharosh getroffen hatte.

Kaid Hadj Ahmed hatte für Scharlatane nichts übrig, selbst wenn sie einen seelischen Kollaps erlitten hatten. Er liess Sidi Mahfoud verhaften und für zwei Tage hinter Schloss und Riegel setzen, mit der Aufforderung, er solle doch Jamharosh aus dem Weltall herbeirufen, um seinen Astronauten zu befreien. Dann wurde der wackere Raumfahrer zur Pflege in eine psychiatrische Klinik in Agadir geschickt. Die Bibliothek wurde für zwei Monate geschlossen. Nach ihrer Wiedereröffnung - sie hatte nun einen neuen Leiter - getrauten sich viele nicht mehr dorthin, weil sie Angst vor dem Dämon hatten, der Sidi Mahfoud heimgesucht hatte.

Hajd Ahmed war ein durch und durch origineller Mensch, und was er für die Menschen der Gegend an Gutem tat, lässt sich gar nicht ermessen. Er brachte eine regelrechte Kulturrevolution zustande. Die ehemaligen Kollaborateure der Kolonialmacht schmähte er verächtlich als "Volksverräter" und "neue Kolonialisten". Sie bekamen bei ihm keine Privilegien wie anderswo, sondern mussten wie alle anderen Schlange stehen, wenn sie um eine Audienz bei ihm ersuchten. Eine solche Behandlung goutierten die Herren gar nicht, denn so etwas gab es sonst nirgendwo im Lande. Die Reichen waren daran gewöhnt, alles kaufen zu können, auch Beamte.

Überall anderswo in Marokko verkam die "Unabhängigkeit" zur Farce, zu einer Art Missgeburt. König Mohamed V war ein trojanisches Pferd der Franzosen. An die Stelle der französischen Herren traten Verräter und Neokolonialisten. Es wirkte so, als hätten sich die Franzosen bloss ihrer europäischen Kleider entledigt und stattdessen die "Djebella", die marokkanische Nationaltracht, angezogen. Die Polizei setzte sich beispielsweise immer noch aus den gleichen Beamten zusammen, die den Franzosen seinerzeit willfährig gedient hatten.

 

 

Alle Widerstandsorganisationen, die sich im Kampf gegen die Franzosen gebildet hatten, wurden nach und nach aufgelöst, und viele ihrer Mitglieder wanderten hinter Gitter. Mit Fug und Recht sagt der Koran: "Wenn Könige in einem Lande die Macht ergreifen, verderben und zerstören sie es und verwandeln seine freien Menschen in Sklaven. Dies tun sie fürwahr." Die heutige marokkanische Monarchie ist vom Kolonialismus geschaffen worden, nicht vom marokkanischen Volk. Der Islam verbietet nämlich die Monarchie als Staatsform.

Der Kaid von Tafraoute, Hadj Ahmed, konnte vier Jahre lang, von 1956 bis 1960, wirken, ehe der Gouverneur von Agadir ihn auf Geheiss des Königs absetzte. Ein Jahr später wurde er von Agenten des Monarchen ermordet, weil er sich nicht in das korrupte System einfügen liess. Der Kaid war ein Mitglied des Orchesters, doch störte er die Symphonie dadurch, dass er seinen eigenen Takt bestimmte. Darum wurde er seines Amtes enthoben und durch den Hampelmann Abdelaziz ersetzt, der zur Kolonialzeit Sekretär des französischen Militärgouverneurs gewesen war. Er war also ein typischer Verräter und eine Kreatur des alten und neuen Kolonialismus.

Dass mein Vater zum Shejk des Tahala-Stammes gewählt wurde, hatte er dem Kaiden Hadj Ahmed zu danken, der an die islamische Demokratie (öShoraö) glaubte. Anderswo im Land wurden die Shejks nicht gewählt, sondern durch die Provinzgouverneure eingesetzt. An einem Sonntag im Januar 1956, es war Markttag, versammelte der Kaid die Angehörigen des Tahala-Stammes zu einem Treffen auf dem Markt Souk Lhad, damit sie ihren Shejk küren sollten. Unter vielen Kandidaten wurde mein Vater gewählt. Als dieser mich anfang 1958 nicht zur Schule gehen lassen wollte, begab ich mich, wie früher berichtet, also zum Kaiden.

Ich war nur ein kleines Kind, aber er empfing mich. Einer der Knöpfe in meinem Hemd war anders als die übrigen. Der Kaid war ein Pedant und Perfektionist. Er kritisierte alles, was ihm nicht in den Kram passte und was er ändern wollte. "Wer hat bloss diesen Knopf angenäht?" fragte er mich. "Ich selbst, denn ich habe keinen passenden Knopf gefunden", antwortete ich.

"Dann musst du einen suchen. Man muss alles ordentlich machen, denn das hat der Prophet befohlen. Alles, was wert ist, dass man es tue, muss gut und sorgfältig getan werden." Er gab mir ein Büchlein mit einer Auswahl von Aussprüchen des Propheten (öHadithö) und fuhr fort: öMan soll nicht nur lesen und denken, sondern auch so handeln wie der Prophet Mohamed." Der Kaid sprach mit mir wie mit einem Erwachsenen. "Selbstverständlich gehst du mir zur Schule", sagte er. "Du kannst kostenlos im Waisenhaus wohnen." Er meldete mich für die Schule an. Mein Vater ärgerte sich nicht wenig darüber, konnte aber nichts tun, weil der Beschluss ja von seinem Vorgesetzten ausgegangen war.

Ich war vielleicht elf oder zwölf Jahre alt und damit mehrere Jahre älter als die anderen Schüler. Einen richtigen Schulranzen hatte ich auch nicht, sondern bloss einen geflochteten Sack, wie ihn die Frauen zum Einkaufen auf dem Markt verwendeten. Ich büffelte Tag und Nacht. Ich kaufte mir Stearinkerzen, damit ich nach dem Lichterlöschen, welches abends um zehn Uhr stattfand, noch weiter lernen konnte. Mit Hilfe zweier Kartons und meiner Decke baute ich mir eine Art Zelt ums Bett, wo ich meine Studien betreiben konnte.

Um vier Uhr früh mussten wir aus den Federn. Ein ehemaliger marokkanischer Unteroffizier der französischen Armee war im Internat für die Disziplin zuständig und regelte unseren Tagesablauf mit mililtärischer Präzision. Nach dem Aufstehen mussten wir uns vor dem Frühstück in eiskaltem Wasser waschen, und dann stand das Morgengebet auf dem Programm. Einige Schüler mochten sich im Winter nicht waschen, weil es so kalt war, und taten nur so, als wüschen sie sich. Einmal kam der Kaid morgens um halb fünf völlig überraschend in die Moschee und entdeckte, dass einige der Kinder ihre Schuhe anhatten, was man in einer Moschee nicht darf. Er war sehr zornig auf uns. Doch war er ein grossartiger Mensch, der mir unendlich viel bedeutete.

Nach nur einigen Wochen in der ersten Klasse durfte ich dank meinem unermüdlichen Fleiss, meinen Vorkenntnissen und meinem Alter gleich in die dritte Klasse aufrücken. Schon drei Monate später sass ich in der vierten und letzten Klasse. 33 Zu jener Zeit, es war Ende 1958, hiess der Erziehungsminister Mohamed el-Fassi. Er war Mitglied der Istqlalpartei und ein recht ordentlicher Mann. El-Fassi befürwortete eine rasche Arabisierung des Unterrichts und hatte beschlossen, die Kinder sollten den Unterricht in marokkanischer Geschichte und Geographie auf arabisch erhalten und nicht mehr auf französisch wie früher.

Der Haken war nur, dass es keine in arabischer Sprache ausgebildeten Lehrer für diese Fächer gab. Die Religionslehrer in den Moscheen hatten ja niemals Geschichte oder Geographie gelernt oder eine pädagogische Ausbildung in diesen Fächern erhalten. Wie konnten sie da anständigen Unterricht erteilen? Von Geschichte und Geographie hatten sie keine blasse Ahnung. Ihr Unterrichtsstil bestand darin, dass sie die Schüler bis zur Ermüdung wiederholen liessen, was sie vorne am Pult sagten.

Mein erster Geographieunterricht wurde von einem Lehrer namens Hadj Mohamed erteilt. Er stammte aus einem Dorf fünf Kilometer von Tafraoute. Trotz seines schlechten Augenlichts weigerte er sich strikt, eine Brille zu tragen, da er alles verwarf, was nicht von Gott geschaffen worden war. Beispielsweise lehnte er es strikt ab, Bus zu fahren, und ritt stattdessen auf einem Geschöpf Gottes zur Schule, nämlich einem Esel. Jeden Tag ritt er auf seinem Esel fünf Kilometer bis zur Schule. Er hängte eine Karte von Marokko an die Tafel und sagte dazu nur: öHier ist Marokko, wiederholt alle, hier ist Marokko. Hier ist Casablanca, sprecht mir nach, hier ist Casablanca. So hat Gott Marokko geschaffen, wiederholt das alle dreimal."

Auf diese Weise ging es weiter. Wir plapperten alles nach, was uns der Lehrer vorsagte. Während der Pausen neckten wir seinen Esel. Eines schönen Tages kam er aber ohne Esel zur Schule, und wir erfuhren, dass er geheiratet und dass seine Frau ihm ein Ultimatum gestellt hatte: Der Esel oder ich! Sie war jünger als er und eine Emanze. Rund einen Monat später kam er wieder zur Schule geritten. Er hatte sich für den Esel entschieden und sich von seiner Frau scheiden lassen.

 

 

 

Meine Zeit an dieser Schule dauerte nur zwei Jahre statt fünf, wie es üblich gewesen wäre. Man händigte mir ein Zeugnis aus, welches besagte, dass ich die marokkanische Grundschule (ö‚cole primaireö) absolviert hatte, und ich durfte meine Ausbildung fortsetzen. In Tafraoute gab es kein Gymnasium, nur in Tiznit, achtzig Kilometer weiter nördlich, und dort kostete der Aufenthalt im Internat Geld, während der Unterricht selbst kostenlos war.

Ich konnte also aufs Gymnasium gehen. Dieses dauerte sechs Jahre und zerfiel in zwei Stufen. Die erste, dreijährige Stufe ("‚cole secondaire") wurde mit einem Diplom (öbrevetö) abgeschlossen, die zweite, gleichfalls drei Jahre dauernde Stufe ("cours compl‚mentaire") mit dem Abitur ("baccalaur‚at"). In Tiznit gab es nur die erste Stufe. Wer auch die zweite absolvieren wollte, musste nach Agadir, 150 Kilometer nördlich von Tafraoute, oder nach Casablanca, 700 Kilometer weiter nördlich, ziehen.

Mein Vater sträubte sich auch weiterhin mit Zähnen und Klauen gegen meinen Schulbesuch, aber ich sprach wiederum mit dem Kaiden, der sich bereit erklärte, die 400 Dirham pro Quartal zu bezahlen, die das Internat in Tiznit kostete. Das war zu jener Zeit ein Haufen Geld, und er zahlte es aus seiner eigenen Tasche. Jeden Monat sandte er mir einen Brief, in dem er mich mahnte, recht fleissig zu lernen.

Als mein erstes Schuljahr in Tiznit zu Ende ging, wurde der Kaid abgesetzt. Wie sollte ich nun meine Ausbildung fortsetzen? Der Rektor, ein bösartiger und prügelfreudiger Franzose namens Pruvost, sagte mir, die einzige Möglichkeit, ein Stipendium zu erhalten, bestehe darin, einen Vertrag zu unterschreiben, in dem ich mich dazu verpflichtete, die ersten drei Jahre auf dem Gymnasium abzuschliessen und dann als Lehrer an der Grundschule ("‚cole primaire") zu arbeiten. Dies bedeutete aber, dass ich die oberen drei Gymnasialklassen nicht besuchen und somit kein Abitur machen konnte. Ich wollte nicht in diesen Vorschlag einwilligen, aber er wurde zornig und zwang mich dazu.

 

 

 

Kleine Kinder zu unterrichten war nun wirklich nicht das, was mir vorschwebte. Ich wollte Nasser nacheifern und wie er für die Freiheit und gegen die sozialen Ungerechtigkeiten kämpfen, indem ich die Monarchie stützte. So unterzeichnete ich zwar wie verlangt den Vertrag, nahm mir aber heimlich vor, der Schule in Tiznit zu gegebener Zeit den Rücken zu kehren.

Wegen all des Unrechts, das ich als Kind miterleben musste, reifte ich schon frühzeitig. Ich entwickelte ungewöhnlich früh ein politisches Bewusstsein und nahm bereits zur Schulzeit in Tiznit eine ganz klare politische Stellung ein. Ich hatte von den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten nicht in Büchern gelesen, sondern sie am eigenen Leibe erfahren.

Dass Hadj Ahmed am Ende meines ersten Schuljahres seines Amtes enthoben wurde, habe ich bereits erwähnt. Er starb ein paar Jahre später unter ungeklärten Umständen in seinem Dorfe Issy, vierzig Kilometer südlich von Tafraoute. Die Leute erzählten sich, die Agenten des Königs seien hinter dem Mord gestanden. Auf lokaler Ebene war Hadj Ahmed für mich ein Beweis dafür, dass es möglich ist, sich tatkräftig für soziale Gerechtigkeit und Demokratie einzusetzen.

Was die landesweite und die internationale Politik betraf, war mein Vorbild aber Nasser. Er bezeugte durch seine Taten, dass es möglich ist, den Kolonialismus und den Neokolonialismus zu überwinden und die Monarchie zu zerschlagen, welche die Spitze eines morschen und tyrannischen Systems bildet. Die politischen Parteien Marokkos sind ein Teil dieses Systems. An ihrer Spitze steht eine korrumpierte Elite, die selbst kulturell und intellektuell kolonisiert und verdorben ist. Wenn ich in Tafraoute am Rundfunk Nassers politischen Reden in der Sendung "Stimme der Araber" von Kairo lauschte, verspürte ich, dass dieser Mann meine eigenen Ideen ausdrückte, dass sein Traum auch meiner war und dass er der geborene Führer der Araber und Muselmanen war. Bereits damals fühlte ich, dass ich, obwohl noch ein Kind, mit Nasser für eine gerechtere Gesellschaft und für eine bessere Zukunft kämpfen, also die Welt verändern musste.

 

 

Aber wie? Zuerst musste ich eine gründliche Ausbildung erlangen, wie mein Idol und Führer Nasser, dachte ich. Doch der Besuch des Gymnasiums in Tiznit befähigte mich lediglich dazu, Grundschullehrer zu werden. Dadurch wurden meine Chancen zur Verwirklichung meines Traums und zu einem grossen Einsatz für mein Vaterland empfindlich geschmälert.

Ich fühle mich als Weltenbürger. Ich bin gegen engstirnigen Nationalismus, besonders wenn er aggressiv und rassistisch ist. Der Nationalismus ist eine notwendige Waffe im Kampf zur Befreiung seines Landes oder Volkes, doch dann sollte man ihn über Bord werfen. Der aggressive und rassistische Nationalismus, der in Europa die Grundlage für Chauvinismus, Expansionismus und Völkerhass gebildet hat, ist widernatürlich und schimpflich.

Meine Bewunderung für den Kampf, den Nasser in gypten führte, war für mich gleichbedeutend mit einer frühzeitigen Überwindung eines engen marokkanischen Nationalismus. Mit der damals erworbenen Einstellung fühlte ich mich nicht als Fremdling, als ich später nach Schweden kam. Ich bin in allererster Linie ein Mensch, und dem Kampf für den Menschen gilt mein ganzes Dasein.

Da ich mit dem despotischen Rektor, der mich nur drei Jahre lang aufs Gymnasium gehen lassen wollte, nicht vernünftig reden konnte, beschloss ich in aller Heimlichkeit, einen kleinen Coup zu unternehmen. Der französischer Rektor war ein durch und durch widerwärtiger Geselle und prügelte die Kinder mitleidlos. Diesem Kerl wollte ich einen Streich spielen. Doch zuvor brauchte ich mein Diplom, welches bewies, dass ich zwei Jahre lang die untere Gymnasialstufe besucht hatte.

Eines schönen Tages im Oktober 1960 sagte ich dem Lehrer, ich wolle im Klassenzimmer sauber machen. Ich bekam die Schlüssel zum Schulsaal und ging zu einem Schrank, der die Dossiers mit unseren Zeugnissen enthielt. Ich nahm meine Papiere heraus, und am Tag darauf stieg ich sehr zeitig auf und sagte der Schule auf Nimmer- wiedersehen. In der Tasche hatte ich keinen roten Heller, doch nahm mich ein Buschauffeur, der meinen Vater kannte, nach Casablanca mit.

 

 

 

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1. Vorwort des Übersetzers

2.
Vorwort des Verfassers

3.
Meine Heimat

4.
Die ersten Jugendjahre

5.
Der Neokolonialismus

6.
Ein junger Freiheitskämpfer

7.
Die erste Revolte

8.
General Oufkir

9.
Neue Pläne für eine Revolte

10.
Ein misslungener Staatsstreich

11.
Die Flucht

12.
Das Schicksal General Dlimis

13.
Der König ist nackt !

14.
Warum das Militär ?

15.
Die islamische Welt

16.
In Schweden


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