Interpretation der Bibel
Besonders unter Christen oder stark von der christlichen Tradition und Kultur beeinflußten Menschen herrscht ein weiteres Mißverständnis, nämlich die irreführende Vorstellung, der Judaismus sei eine "biblische Religion" und das Alte Testament im Judaismus nähme denselben wichtigen Platz und dieselbe gesetzgebende Autorität ein wie die Bibel für die Protestanten oder sogar für die katholische Christenheit. Auch dies ist wieder mit der Frage der Auslegung verbunden. Wir haben gesehen, daß es in Glaubensdingen einen großen Spielraum gibt. Genau das Gegenteil gilt jedoch für die rechtliche Auslegung der heiligen Texte. Hier läßt die Interpretation kaum Spielraum, was allerdings mehr für denTalmud als die Bibel selbst gilt. Der klassische Judaismus und die heutige Orthodoxie legen vielen und vielleicht sogar den meisten biblischen Versen, die religiöse Handlungen und Pflichten vorschreiben, eine ganz andere und sogar gegensätzliche Bedeutung bei als die Christen oder die anderen Leser des Alten Testaments, die nur den nackten Text sehen. Dieselbe Trennlinie ziehen derzeit in Israel einerseits in jüdischen religiösen und andererseits in "weltlichen" hebräischen Schulen ausgebildete Menschen, denen im großen und ganzen die wörtliche Bedeutung des Alten Testaments gelehrt wird. Diesen wichtigen Punkt kann man nur anhand von Beispielen verstehen. Man wird feststellen, daß die Bedeutungsänderungen unter ethischen Gesichtspunkten überhaupt nicht in die Richtung des heutigen Verständnisses dieses Begriffs gehen. Apologeten des Judaismus meinen, daß die Auslegung der Bibel, die mit den Pharisäern begann und im Talmud festgelegt ist, immer über den wörtlichen Sinn hinausgeht. Die nachfolgend aufgeführten Beispiele zeigen, daß dies von der Wirklichkeit weit entfernt ist. 1. Beginnen wir mit den Zehn Geboten. Das Achte Gebot "Du sollst nicht stehlen" (2. Mose 20, 15) wird als Verbot des "Stehlens" (d.h. der Entführung) einer jüdischen Person verstanden, weil nach dem Talmud - so die Auslegung - alle von den Zehn Geboten verbotenen Handlungen Kapitalverbrechen sind. Das Stehlen fremden Eigentums ist dagegen kein Kapitalverbrechen, und die Entführung von Nichtjuden durch Juden ist durch das talmudische Gesetz erlaubt. Der nahezu gleiche Satz "Ihr sollt nicht stehlen" (3. Mose 19, 11) ist dagegen in seiner wörtlichen Bedeutung zu verstehen. 2. Die bekannte Aussage "Auge um Auge, Zahn um Zahn" usw. (2. Mose 21, 24) wird als "Augengeld für ein Auge" interpretiert, d.h. als die Zahlung einer Geldstrafe und nicht als physische Vergeltung. 3. Hier liegt der bekannte Fall vor, in dem die wörtliche Bedeutung in das genaue Gegenteil verkehrt wird. Der biblische Text warnt eindeutig davor, der Masse bei einem ungerechten Verfahren zu folgen: "Du sollst nicht folgen der Menge zum Bösen und nicht also antworten vor Gericht, daß du der Menge nachgibst und vom Rechten weichest." (2. Mose 23, 2). Die letzten Worte dieses Sinnspruchs "... daß du der Menge nachgibst und vom Rechten weichest" werden aus dem Zusammenhang gerissen und als gerichtliches Gebot, der Mehrheit zu folgen, ausgelegt! 4. Der Vers " ... und sollst das Böcklein nicht kochen in seiner Muttermilch" (2. Mose 23, 19) wird als ein Verbot ausgelegt, jede Art von Fleisch mit Milch oder einem Milchprodukt zu mischen. Da derselbe Vers an verschiedenen Stellen in den fünf Büchern Moses steht, wird die bloße Wiederholung als ein dreifaches Verbot gehalten, das es einem Juden verbietet, (ad 1) solch eine Mischung zu essen, (ad 2) sie zu irgendeinem Zweche zu kochen und (ad 3) sie zu genießen oder auf irgendeine Weise einen Nutzen daraus zu ziehen. 5. "Dein Nächster ", "Fremder" oder sogar "Mensch" werden so verstanden, daß sie eine supra-exklusive chauvinistische Bedeutung haben. Der bekannte Satz "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (3. Mose 19, 18)" versteht der klassische (und heutige orthodoxe) Judaismus als einen ausdrücklichen Befehl, den nächsten Juden, aber nicht den nächsten Mitmenschen zu lieben. Desgleichen soll der Satz "Du sollst auch nicht stehen wider deines Nächsten Blut" (daselbst, 16) die Bedeutung haben, daß man nicht tatenlos zusehen darf, wenn das Leben (das "Blut") eines Mitjuden in Gefahr ist. Wie wir jedoch noch in Kapitel V ("V Gesetze gegen Nichtjuden") sehen werden, ist es einem Juden allgemein verboten, das Leben eines Nichtjuden zu retten, denn "er ist nicht dein Nächster". Das großzügige Gebot, die Nachlese von Ähren auf einem Feld und in einem Weinberg "dem Armen und Fremdling" zu überlassen (ebenda, 9 und 10) wird so ausgelegt, das sich dies ausschließlich auf jüdische Arme und Konvertiten zum Judentum bezieht. Die Tabu-Gesetze, die für Leichen gelten, beginnen mit dem Vers "Dies ist das Gesetz: Wenn ein Mensch in der Hütte stirbt, soll jeder, der in die Hütte geht, ... unrein sein sieben Tage". (4. Mose 19, 16; Anmerkung des Übersetzers: Nach der Luther-Übersetzung ist das der Vers 14, und nicht Vers 16 wie im englischen Original.) Jedoch hat das Wort "Mensch" (adam) die Bedeutung "Jude", so daß nur ein jüdischer Leichnam tabu (d.h. sowohl "unrein" als auch geheiligt) ist. Nach dieser Auslegung bringen fromme Juden eine tiefe magische Verehrung jüdischen Leichen und jüdischen Friedhöfen entgegen, haben aber keinen Respekt gegenüber nichtjüdischen Leichen und Friedhöfen. So wurden Hunderte moslemischer Friedhöfe in Israel vollständig zerstört (wie in einem Falle, um für das Hilton-Hotel in Tel Aviv Platz zu machen). Es gab aber einen lauten Schrei des Entsetzens, als der jüdische Friedhof am Ölberg unter jordanischer Herrschaft beschädigt wurde. Es gibt zuviele Beispiele dieser Art, als daß man sie anführen könnte. Einige der inhumanen Konsequenzen dieser Art der Auslegung werden in Kapitel V ("V Gesetze gegen Nichtjuden") behandelt. 6. Betrachten wir zum Schluß eine der schönsten prophetischen Passagen, nämlich Jesajas eindrucksvolle Verdammung der Heuchelei und des leeren Rituals sowie seine Ermahnung zu allgemeiner Sittlichkeit. Ein Vers (Jesaja 1, 15) in dieser Passage lautet: "Und wenn ihr schon eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und ob ihr schon viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut." Da die jüdischen Priester bei der Erteilung des Segens während des Gottesdienstes "die Hände ausbreiten", deutet man diesen Vers so, daß ein Priester, der zufällig ein Tötungsdelikt begeht, für ungeeignet erklärt wird, bei der Segnung "seine Hände auszubreiten" (auch wenn er seine Tat bereute), da sie "voll von Blut sind". Schon an diesem Beispielen zeigt sich klar, daß, wenn ein orthodoxer Jude heute (oder alle Juden vor etwa 1780) die Bibel lesen (gelesen haben), sie in ein ganz anderes Buch mit einer vollständig anderen Bedeutung als in jene Bibel sehen, wie sie Nichtjuden oder nichtorthodoxe Juden verstehen. Diese Unterscheidung gilt sogar in Israel, obwohl beide Parteien den Text in Hebräisch lesen. Die Erfahrung hat, besonders seit 1967, dies wiederholt erhärtet. Viele nichtorthodoxe Juden in Israel (und anderswo) haben nur wenig detaillierte Kenntnis der jüdischen Religion und versuchen, orthodoxe Israelis (oder stark von Religion beeinflußte Anhänger rechter Parteien) durch Zitieren von Bibelversen in ihrem schlichten menschlichen Sinne zu beschämen, so daß sie ihre inhumane Einstellung gegen die Palästinenser aufgeben. Es stellte sich jedoch immer heraus, daß solche Argumente nicht die geringste Wirkung auf die Anhänger des klassischen Judaismus zeigen. Sie verstehen einfach nicht, was man ihnen sagt, da ihnen der biblische Text etwas ganz anderes bedeutet als den anderen. Wenn schon solch eine
Kommunikationslücke in Israel existiert, wo Menschen
hebräisch lesen und sich die richtigen Informationen
beschaffen können, kann man sich vorstellen, wie tief
im Ausland das Mißverständnis geht, wie etwa bei
Menschen, die in der christlichen Tradition aufwuchsen. Je
mehr solche Leute die Bibel lesen, desto weniger kennen sie
den orthodoxen Judaismus. Letzterer betrachtet das Alte
Testament nämlich als einen Text unwandelbarer heiliger
Glaubensformeln, die herzusagen eine Handlung von hohem Wert
ist, deren Bedeutung aber anderswo vollständig
festgelegt wird. Wie schon Humpty-Dumpty zu Alice sagte,
steht hinter dem Problem, wer denn die Bedeutung der
Wörter festlegen kann, die einfache Frage: "Wer soll
der Herr sein?"
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Israel Shahak:
(Online)
"Jüdische Religion, Jüdische Geschichte":
Inhaltsverzeichnis:
A/ 1- Israel - ein Utopia für Auserwählte?
- 2- Definition des Judenstaates
- 3- Die Ideologie vom "erlösten" Land
- 4- Israelischer Expansionismus
- 5- Ein geschlossenes Utopia?
B/ 6- Vorurteile und Verfälschungen
- 7- Befreiung von außen
- 8- Hindernisse für das Verstehen
- 9- Totalitäre Geschichte
- 10- Verteidigungsmechanismen
- 11- Die Täuschung geht weiter
C/ 12- Orthodoxie und Interpretation
- 13- Interpretation der Bibel
- 14- Aufbau des Talmud
- 15- Die Dispensationen cc1-
- 16- Verzinsung cc2-
- 17- Das Sabbat-Jahr cc3-
- 18- Melken am Sabbat cc4-
- 19- Vermischte Feldfrüchte cc5-
- 20- Gesäuerte Substanzen cc6-
- 21- Der Sabbat-Goj
- 22- Soziale Aspekte der Dispensationen
D/ 23- Die Bürde der Geschichte
- 24- Grundzüge des klassischen Judaismusda1-
- 25- England, Frankreich und Italien da2-
- 26- Moslemische Länder da3-
- 27- Das christliche Spanien da4-
- 28- Polen
- 29- Antijüdische Verfolgungen
- 30- Der moderne Antisemitismus
- 31- Die zionistische Reaktion
- 32- Konfrontation mit der Vergangenheit
E/ 33- Gesetze gegen Nichtjuden
- 34- Mord und Völkermord
- 35- Rettung von Leben
- 36- Entheiligung des Sabbats zur Lebensrettung
- 37- Sexuelle Straftaten
- 38- Status
- 39- Geld und Eigentum ef1-
- 40- Geschenke ef2-
- 41- Zinsforderungen ef3-
- 42- Verlorenes Eigentum ef4-
- 43- Täuschung im Geschäftsleben ef5-
- 44- Betrug ef6-
- 45- Diebstahl und Raub
- 46- Nichtjuden im Land Israel
- 47- Schmähungen
- 48- Die Einstellungen zu Christentum und Islam
F/ 49- Politische Konsequenzen
- 50- Jerusalem und die Juden
- 51- Rezension von Benjamin Beit-Hallahmi
- 52- Leserbriefe
- 53- Ein Exzeß an Demagogie
- 54- Ein spanisches Beispiel
- 55- Israelischer Terrorismus
- 56- Die Halacha unterscheidet zwischen verschiedenen Arten von Mord
- 57- Wer ist Demokrat im Nahen Osten?
- 58- Scharons Imperium
- 59- Mord gemäß der Halacha
- 60- Das Gleichnis gilt
- 61- Gebete auf verworrenen Wegen
- 62- Das iranische Modell
- 63- Maskerade von ausgestopften Bälgern als menschliche Wesen
- 64- Beste Absicht?
- 65- Ist es noch dieselbe Arbeiterpartei?
- 66- eres' Unterstützung der Siedler
- 67- Woraus besteht eine Öffentlichkeit?
- 68- Organspenden von Nichtjuden
- 69- Der Weg zu absoluter Korruption
- 70- Ein Fall einer unreinen Adresse
- 71- Der Rassismus von Arthur Ruppin
- 72- Sehnsucht nach Wiedererrichtung des Königreichs Davids und Salomos
- 73- Was will Gott wirklich?
- 74- Gehirnwäsche
- 75- Wer darf aus den "Staatsländereien" Nutzen ziehen?
- 76- Wie die religiösen Fanatiker in Ägypten
- 77- Ein Chomeini-Staat
- 78- Das Schweigen der israelischen Juden
- 79- Vier Hauptmerkmale des Apartheid-Regimes
- 80- Professor Gabison irrt
- 81- Ein grober Bruch der militärischen Disziplin
- 82- Es kann hier geschehen
- 83- Der richtige Name ist "Genozid" und nicht "Sho'a"
- 84- Der Verrat der [israelischen] Medien und Intellektuellen
- 85- Sabra und Schatila Nr. 2
- 86- Die [zionistische] Arbeiterbewegung ist nicht sozialdemokratisch
- 97- "Diese Missetat soll euch nicht vergeben werden, bis ihr sterbet"
- 88- Die Ideen der Chabad-Bewegung sind noch verwerflicher als diejenigen von Kahane
- 89- Die "Grundsatzerklärung" erkennt nicht die Rechte der Palästinenser an
- 90- Nichtmoderater physischer Druck
- 91- Nur zum Nutzen der Juden
- 92- Ein Fall von Vorurteilslosigkeit aus dem 11. Jahrhundert
- 93- Das jüdische Religionsgesetz ist inhuman achwort von Edward W. Said
- 94- Die
Vita von Israel Shahak